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Traumland, Tummelplatz, Getto der Geächteten

Filmphotos und erotische Graphiken, Kampfschriften und Kontaktanzeigen, Kriminalakten und politische Dokumente: Eine Ausstellung in West-Berlin macht, erstmals in Deutschland, ein Jahrhundert homosexueller und lesbischer Subkultur anschaulich. Ihr Titel erinnert an ein Glitzerlokal der zwanziger Jahre: »Eldorado«. *
aus DER SPIEGEL 27/1984

Berlin, 23. Juni. Im Wetterbericht waren Windböen bis Stärke zehn angesagt. Gegen Mittag ist der Himmel grauwolkig, es stürmt, ab und zu Platzregen. »Christopher Street Day«-Demonstration in der Innenstadt, Erinnerung an den Protest von New Yorker Schwulen vor fünfzehn Jahren gegen alltägliche Polizeiwillkür. Erstmals haben sich da in Amerika Homosexuelle gemeinsam gewehrt gegen Unterdrückung; das »Zusammen sind wir stark«-Gefühl war Ausgangspunkt für eine neue, zweite Emanzipationsbewegung auch in Deutschland.

Daß es jemals eine erste gegeben hatte, war kaum jemandem bewußt. »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt": Rosa von Praunheims Fernsehfilm war der Zündfunke. Von da an entstanden in der Bundesrepublik Schwulengruppen, spontan meist, verspätete Geschwister der Studentenbewegung.

Berlin wurde, neben Amsterdam, zum Eldorado der Homosexuellen. Mekka und Medina waren New York und San Francisco. Alles war möglich: Massenveranstaltungen und Fraktionsbildungen, »Tuntenstreit« und Ledertreffen, Filmretrospektiven und Cafes, alte Subkultur und neues Selbstbewußtsein, schwule Buchläden und Zeitungen, Dogmatismus und melancholische Innerlichkeit, ein Treffen schreibender Schwuler und eine Abteilung »Schwule machen Kunst« bei der Freien Berliner Kunstausstellung - Bewegung ohn'' Unterlaß, die nur allmählich erlahmte.

Verlangsamung bedeutete jedoch nicht Stillstand. Es tut sich noch immer was, nur ohne die übersprudelnde Emphase des Beginns, und die Lesbengruppen, eingebettet in die Solidarität der soliden Frauenbewegung, sind mindestens so lebenskräftig wie die zahlenmäßig größeren Männervereine. Getrennt läuft man in ungefähr dieselbe Richtung. Nur einmal im Jahr, am »Christopher Street Day«, wird Gemeinsamkeit versucht - und es kommen in Berlin, selbst wenn das Wetter schlecht ist, genügend Frauen und Männer zusammen, um den üblichen Samstagnachmittag-Verkehr zum Erliegen zu bringen, innerstädtisch zumindest.

Ein paar Kilometer entfernt, in Kreuzberg zwar und nahe der Mauer, doch im repräsentativ barocken ehemaligen Kammergericht, das inzwischen ein Berlin Museum beherbergt mit einer ständigen Ausstellung zur Stadtgeschichte - ein paar Kilometer entfernt findet bis in den Juli hinein eine ungewöhnliche Veranstaltung statt: »Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850 bis 1950. Geschichte, Alltag und Kultur«. Gezeigt wird, was Hausfrauen, Lehrerinnen und sogenannte übriggebliebene Jungfern, die Frauen liebten, und was Arbeiter, Landgerichtsräte, Ärzte und Soldaten, die Männer liebten, in dieser Zeit wagten und leiden mußten.

Die Ausstellung, die erste deutsche dieser Art, geht der offiziell verschwiegenden Sozialgeschichte einer »Minderheit« nach, die in Deutschland mehr noch als in anderen christlich-abendländischen Nationen unterdrückt wurde. Die vom NS-Faschismus zum Ziel erklärte und auch verwirklichte Vernichtung alles »Artfremden« hat sich in diesem »Fall« noch bruchlos bis in die Adenauer-Welt fortgesetzt: Das Bundesverfassungsgericht stellte Mitte der fünfziger Jahre fest, die Verschärfung des Paragraphen _(Links: Filmszene aus »Anders als die ) _(andern« (1919); Mitte o.: Radierung von ) _(Erich Godal, Mitte u.: Damenklub-Anzeige ) _((1929); rechts: Filmszene aus »Mädchen ) _(in Uniform« (1932). )

175 im Jahr 1935 sei kein genuin nationalsozialistisches »Gedankengut« gewesen. Damit blieb nicht nur die rechtliche Verfolgungsmöglichkeit ungeschmälert erhalten (bis 1969), sondern jeder Versuch, bespielsweise Wiedergutmachung zu verlangen, hätte zur Selbstauslieferung an die Justiz geführt. Bis zu diesem Punkt schlechter Kontinuität deutscher Geschichte reicht die Ausstellung.

Dabei konzentriert sich »Eldorado« auf den »Alltag«, obwohl man sich zum Beleg der vergangenen besonderen Normalität hauptsächlich auf Ausnahmeerscheinungen, auf Künstler, Publizisten, Aktivisten und deren Äußerungen beziehen mußte, weil''s sonst zu wenige gegeben hätte. _____« Mit dem Aufstieg zur weltstädtischen Metropole wurde » _____« Berlin zum Anziehungs- und Fluchtpunkt der Homosexuellen, » _____« die den sozialen Kontrollen der Provinz entkommen » _____« wollten, um in der Anonymität der Großstadt » _____« unterzutauchen. Der große Zustrom von Homosexuellen » _____« führte zur Ausbildung einer vielseitigen und » _____« facettenreichen Subkultur und einem nicht zu » _____« unterschätzenden Einfluß auf das öffentliche Leben » _____« Berlins. » _____« Im Zusammenhang mit der Frauenbewegung traten » _____« lesbische Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals » _____« an die Öffentlichkeit. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden » _____« Lesbierinnen durch zahlreiche Organisationen, Schriften » _____« und Veranstaltungen im öffentlichen Leben aktiv. In den » _____« zwanziger Jahren wurde das schwule und lesbische Leben so » _____« prägend für die Großstadt Berlin, daß kaum ein Künstler, » _____« der sich mit der Stadt auseinandersetzte, die » _____« gesellschaftliche Situation der Homosexuellen ignorieren » _____« konnte. »

So Rolf Bothe vom Berlin Museum in seiner Einleitung zum Katalogbuch. Vergangene Unterdrückung und Gegenwehr zu dokumentieren, um daraus für heute und morgen zu lernen, war ein Motiv der Ausstellungsplaner - und das fand nicht überall Beifall: Nach Ankündigung des Projekts verließ eine große Anzahl von »Freunden und Förderern des Berlin Museums« den Verein.

Trotz dieser Widerstände: Die Ausstellung beherrscht derzeit das gesamte Museum. Wollte man nur »normale« berlinische Stadtgeschichte in den oberen Etagen und in den verbliebenen Räumen des Erdgeschosses anschauen, müßte man durch »Eldorado« hindurch - so geschickt sind Preußens offizielle und »andere« Welt ineinander verzahnt; selbst zur vielgeliebten Berliner »Weißbierstube« führt ein Weg nur durch die Gefilde der Unzucht.

Die sind nun allerdings in sich peinlich genau aufgeteilt, halb männlich, halb weiblich, nicht anders als am »Christopher Street Day": Was an demonstrativer Gemeinsamkeit einen Tag lang möglich ist, ließ sich wohl nicht durchhalten für die gesamte Planungs- und Ausstellungsarbeit. _(Oben links: Zeichnung von Christian ) _(Schad; oben rechts: Bild eines »der ) _(Polizei bekannten Erpressers«; unten ) _(links: Aquarell von Otto Dix. )

Auch das Katalogbuch _("Eldorado, Homosexuelle Frauen und ) _(Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, ) _(Alltag und Kultur«. Verlag Frölich & ) _(Kaufmann, Berlin; 216 Seiten; 28 (im ) _(Buchhandel 34) Mark. )

ist zweigeteilt: Je rund hundert »schwule« und »lesbische« Seiten.

Die Trennung erstaunt auf den ersten Blick, gibt es doch kaum formale Unterschiede bei der Präsentation: Hier wie dort ein munteres Sammelsurium von Texten, Photos, Gemälden und Zeichnungen, Büchern und Zeitungsausschnitten. Beim zweiten Hinsehen allerdings wird ein Motiv der Trennung sichtbar: Konsequent wurde die Darstellung von Nacktheit im Frauen-Flügel vermieden.

Im Männer-Teil hingegen gab''s keine Scheu vor Blößen - weil ein Männerakt noch immer per se für Irritation beim Betrachter gut ist? So sind dort die nackten Sizilianer-Epheben des Baron von Gloeden in ihren antikischen Posen zu sehen, dazu Fidus, Dix, Klinger und Marees - Kunst also, die sonst in durchaus klassischen Zusammenhängen bekannt ist.

Näher beim »Eldorado«-Thema: Einige schöne Federzeichnungen von Christian Schad aus dem sündigen Subkultur-Berlin der zwanziger Jahre; die eigentümlich gekünstelten, fast präraffaelitisch anmutenden Gemälde Elisar von Kupffers; die beschwingt-spontanen und zugleich völlig durchdachten Aquarelle und Zeichnungen Jeanne Mammens; die sinnlichen und dabei zart vorsichtigen Radierungen von Renee Sintenis.

Das künstlerische Moment war jedoch nicht ausschlaggebend für die »Eldorado«-Planer, auch nicht die Frage, ob es so etwas wie eine »schwule Asthetik« geben könne, sondern die Möglichkeit, Kunst zur historischen Information zu nutzen. Und über den Rahmen der Ausstellung hinaus versucht der Katalog, eine bislang weithin unbekannte Unterdrückungs- und Widerstandsgeschichte zu schreiben.

Karl Heinrich Ulrichs'' ab 1864 erscheinende Traktate zur Befreiung der »Urningsliebe« bezeichnen die »Stunde Null« - ein neues, ein Kampf-Wort wird da geprägt für die eigentlich namenlose Liebe, die zwar lange Sodomie oder Päderastie genannt wurde und etwa zur gleichen Zeit den heute geläufigen, medizinisch und nach Krankheit klingenden Namen »Homosexualität« verpaßt bekam, für die es aber (bis heute) keinen neutralen, keinen nicht-diskriminierenden oder nicht-kämpferischen Begriff gibt.

Breiten Raum nimmt die Darstellung von Magnus Hirschfelds »Wissenschaftlich-humanitärem Komitee« ein und seines Versuchs, den physiologischen Nachweis eines »dritten Geschlechts« zu erbringen, eine Art biologischer Entschuldigung für die Verhaltenswirklichkeit; diesem Ziel diente auch das über lange Zeit regelmäßig erscheinende »Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen«, das, zusammen mit anderen Hirschfeld-Publikationen, 1933 auf die Scheiterhaufen der Bücherverbrennungen geriet.

Ausführlich wird auch Adolf Brands »Gemeinschaft der Eigenen« dargestellt, die ein individualistisches, antikisierendes und vorgeblich nicht homosexuelles Männerideal propagierte; Hans Blühers männerbündlerische, antifeministische Wandervogel-Ideologie ist da nicht fern.

Einschneidende zeitgeschichtliche Ereignissse für die homosexuellen Emanzipationsbestrebungen - wie der Eulenburg/Moltke- oder der Krupp-Skandal - werden ebenso dokumentiert wie die Gruppenauseinandersetzungen über den richtigen Weg zur Selbstbefreiung: Sollte man reformistisch mit den Linksparteien zusammenarbeiten oder konfrontativ auch deren doppelmoraliges Schielen nach kleinbürgerlichen Wählern herausstellen?

So tritt die Atmosphäre jener halbwegs liberalen Periode zwischen 1918 und 1933 besonders plastisch hervor: Von Magnus Hirschfelds Aufklärungsfilm »Anders als die andern« über die vielfältigen kulturellen und unterhaltenden Aktivitäten bis hin zur großen, höchst unterschiedliche Bedürfnisse befriedigenden Subkultur: Curt Morecks »Führer durch das lasterhafte Berlin« von 1930, die schon 1910 anonym erschienene Sittengeschichte »Das perverse Berlin - Kulturkritische Gänge«, aber auch Romane wie Klaus Manns »Der Fromme Tanz« oder Sagittas (d.i. John Henry Mackay) »Bücher der namenlosen Liebe« gehören dazu.

Unter den ausgiebig beschriebenen Vergnügungsorten taucht dann auch jener auf, dem die Berliner Ausstellung ihren Namen verdankt: _____« Das Eldorado mit seinen Transvestiten, Schwulen und » _____« Lesben wurde nicht nur ein interessanter homosexueller » _____« Treffpunkt, sondern auch ein wichtiger Bestandteil des » _____« Nachtlebens der Schickeria, der Künstler und Literaten » _____« ... Einen Abend im. Eldorado zu verbringen, das ist die » _____« letzte Mode der Berliner »Gesellschaft«. Dort sitzt ein » _____« bekannter Großbankdirektor, da ist ein Großer aus der » _____« Industrie, viel Theater und Film. »

»Eldorado«, Ausstellung wie Buch, zeigt auch, daß es für die Frauen noch schwieriger ist, einer verdrängten Unterdrückungsgeschichte auf die Spur zu

kommen. Es fehlt, jedenfalls für den Zeitraum 1850 bis 1950, ein juristischer Ausdruck für die gesellschaftliche Diskriminierung, denn es gab und gibt den Paragraphen 175 für Frauen nicht: Ein vorherrschendes gesellschaftliches Bewußtsein von der »Minderwertigkeit der Frau« (von dem auch Lesbierinnen betroffen waren) ist nicht gleichzusetzen mit den realen Folgen, die der Paragraph 175 für Männer hatte: Das Gefängnis »Familie« bleibt erträglicher als ein wirkliches Zuchthaus.

In einer Männergesellschaft lebend, hatten lesbische Frauen zudem lange Zeit das Problem, sich in ihren Aktivitäten den vorhandenen Organisationen der Homosexuellen anschließen zu müssen, wollten sie überhaupt Schlagkraft entwickeln.

Erst während der Weimarer Republik entwickelten sich Lebensnormen von lesbischen Frauen, die mehr waren als Formen der allgemeinen Frauenbewegung oder Anhängsel der Männervereine. Zeitschriften wie »Die Freundin« und »Garconne«, Clubs wie »Violetta« und »Erato« zeigen ausgeprägte Unterschiede der Selbsteinschätzung und der politischen Strategien auch unter den Lesbierinnen. Soziale Herkunft und beruflicher Status spielten - so Ilse Kokula in ihrer Abhandlung »Lesbisch leben von Weimar bis zur Nachkriegszeit« - dabei eine entscheidende Rolle: _____« Während die Frauen der Mittel- und Oberschicht sich » _____« am Garconne-Stil, also an der Androgynität orientierten, » _____« fand in der Unterschicht eher eine Anlehnung an die » _____« »Frau-Mann-Polarität« statt, d.h. eine Frau verkörperte » _____« in der Partnerschaft eher die männlichen, die andere die » _____« weiblichen Aspekte. Diese Rollenzuteilung wurde in der » _____« Regel durch Kleidung, Frisur und Art der Mitarbeit im » _____« gemeinsamen Haushalt ausgedrückt. »

Ein übergreifender Text, der die Schwierigkeiten weitergehender Forschung und der Darstellung bereits vorhandener Ergebnisse zusammenfaßt, fehlt in der »Eldorado«-Dokumentation.

Wahrscheinlich hätten sich die Ausstellungsmacher und -macherinnen nur schwer darauf einigen können, und wohl auch deshalb wurde das Jahr 1950 als Schlußpunkt gesetzt. Bei einer Präsentation dessen, was die neue Lesben- und Schwulenbewegung seit den Siebzigern war und ist, wäre es sicher nicht nur zu Auseinandersetzungen zwischen Männern und Frauen, sondern auch innerhalb der jeweiligen nach Geschlechtern getrennten Gruppen gekommen.

Dennoch: Mit »Eldorado« ist ein erster Versuch gelungen, einen Teilbereich verdrängter Geschichte zu rekonstruieren: »Gegen den kollektiven Verlust und gegen den individuellen »Gedächtnisschwund« der Betroffenen setzt »Eldorado« seine Bilder, Dokumente und Texte - am richtigen Ort, und solange noch die Zeit dazu ist.

Links: Filmszene aus »Anders als die andern« (1919); Mitte o.:Radierung von Erich Godal, Mitte u.: Damenklub-Anzeige (1929);rechts: Filmszene aus »Mädchen in Uniform« (1932).Oben links: Zeichnung von Christian Schad; oben rechts: Bild eines"der Polizei bekannten Erpressers«; unten links: Aquarell von OttoDix.»Eldorado, Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950.Geschichte, Alltag und Kultur«. Verlag Frölich & Kaufmann, Berlin;216 Seiten; 28 (im Buchhandel 34) Mark.

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