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Fernsehen Traurige Zahl

NDR und Radio Bremen senden jetzt den ersten umfassenden TV-Unterricht in bundesdeutsche Schulen. Aber nur wenige Klassen können ihn empfangen.
aus DER SPIEGEL 39/1972

Vor 18 Jahren beschloß der Gemeinderat im niedersächsischen Kalidorf Sehnde, seine Volksschule mit einer Fernsehantenne auszurüsten. Denn wenn weiter so viele Lehrer fehlen, erkannten die Ratsherren schon damals, »ist das Schulfernsehen in Kürze eine Notwendigkeit«.

Nun endlich wird die Weitsicht der Dorfpolitiker belohnt: Seit Montag dieser Woche funkt das dritte Programm von NDR und Radio Bremen das bislang »einzige reine Unterrichtsfernsehen in der Bundesrepublik« -- so der Leiter dieses Programms, der ehemalige NDR-Direktor Franz Reinholz.

Schon vorher hatten einige Sender -- der Bayerische Rundfunk beispielsweise seit 1964 -- Schulfernsehen ausgestrahlt. Ein systematischer Fernseh-Unterricht wird aber erst jetzt in Norddeutschland möglich, nachdem sich die Landesregierungen in Hamburg, Bremen, Hannover und Kiel verpflichtet haben, zunächst »für jede zehnte allgemeinbildende Schule« zwei Fernsehgeräte sowie »TV-programmierte Lehrbücher« zu beschaffen.

Für das fünfte bis achte Schuljahr lehren nun fünf Pädagogen in den Funkhäusern drei Fächer -- von Montag bis Freitag jeweils fünfeinhalb Stunden und ein ganzes Schuljahr lang. Kosten der vorerst 180 projektierten

* Mitglieder des Hamburger Fernsehballetts tanzen die mathematische Struktur »Gruppe«.

Sendungen, von denen 80 vom Südwestfunk übernommen werden: rund 7,5 Millionen Mark.

Diese Summe, so klagt der Hamburger Fernsehlehrer Detlef Pietz, ist jedoch »bei der traurigen Schülerzahl am Bildschirm glatt verschenkt«. Denn nur jeder dreißigste Zehn- bis Dreizehnjährige in den vier norddeutschen Küstenländern wird von dem »Großversuch« (NDR) profitieren. Das von Ländern und Mäzenen aufgebrachte Geld reicht lediglich für 900 Farbgeräte und für noch nicht einmal 30 000 Kursusbücher.

Diesen »Fehlstart« halten Pädagogen besonders deswegen für »kompletten Irrsinn« und »eine Riesen-Schweinerei« » weil sie sich vom Fernsehen Hilfe beim Unterricht in zwei neuen Fächern versprochen hatten, für die kaum ein Schulmeister ausgebildet worden ist. Denn der Fernunterricht wird -- neben Englisch -- in der von den Kultusministern empfohlenen »Arbeitslehre« über technische, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge sowie in »Mengenlehre« erteilt, die dieses Jahr in allen Bundesländern den herkömmlichen Rechenunterricht ersetzen soll

Bei der Einführung dieser neuen Fächer, beobachtete der Hildesheimer Pädagogik-Professor Heribert Heinrichs« »spielen sich in den Schulen entsetzliche Tragödien ab«. Um die Tragödien zu mildern, hatten sechs NDR-Redakteure sogenannte Medienpakete ausgearbeitet: TV-Einführungskurse für Lehrer,

TV-Unterricht für Schüler und für beide schriftliches Begleitmaterial.

Dieses »Medienverbundsystem«, das ergab nach Versuchssendungen im Februar eine Umfrage, wollten drei Viertel der Lehrer für ihre Klassen nutzen. Denn »durch den Fernunterricht«, so der Oldenburger Erziehungswissenschaftler Peter Strittmatter, »wird das Interesse an den Lehrzielen gesteigert«. Strittmatter glaubt zudem, daß vor dem Schul-Bildschirm »Kinder aus einfachen Sozialschichten nicht mehr benachteiligt« seien.

Gegenwärtig freilich wird durch das Schulfernsehen das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land eher noch verstärkt. Denn während etwa in Bremen jeder fünfte Schüler der angesprochenen Altersgruppe am TV-Unterricht teilnehmen kann, ist es in Niedersachsen nur jeder vierzigste. Da es dort keine Lehrmittelfreiheit gibt, müssen Eltern eder Mäzene die Geräte und Begleitbücher bezahlen.

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