AUTOREN Treibsand des Lebens
Hier, zwischen Kings Road und Themse, haust Londons gediegenes Geld. Protz ist peinlich, Reichtum nicht. In den Vorgärten von Chelsea stehen manikürte Buchsbäume in schwarzen Kübeln, die Haustüren sind frisch lackiert, die Löwenkopf-Türklopfer glänzen, durch Edelholz-Jalousien blitzen vor allem deutsche Designerküchen.
Inmitten der altgewordenen Yuppies und Thatcher-Profiteure hinter den Backsteinfassaden, die Mini-Schlösser imitieren, wohnt in einem der unscheinbarsten Häuschen in der Old Church Street eine greise Schriftstellerin, deren ganzer Luxus ausgetrunkene Weinflaschen sind. Und die Erinnerungen an ihre Kindheit als deutsche Baroness in einem badischen Schloss und an ein berauschendes Leben voll Glamour und Geist und turbulenten lesbischen Affären.
In der europäischen Literatur ist Sybille Bedford, 94, eine singuläre Figur, in ebenso vielen Ländern zu Hause wie in literarischen Genres. Sie war die Freundin und Vertraute berühmter Schriftsteller und ist selbst die gefeierte Autorin von - besonders in der angelsächsischen Welt - geschätzten Reiseberichten, Gerichtsreportagen und Romanen. Eine Weltbürgerin aus Neigung und Herkunft.
Jetzt im Alter erlebt die bedeutende Literatin so etwas wie eine späte Wiederentdeckung. In den USA und in Großbritannien ist kürzlich ihr Erinnerungsband »Quicksands« erschienen - mit hymnischen Besprechungen*. Und in ihrem Geburtsland Deutschland ist gerade »Ein Liebling der Götter«, einer ihrer wichtigsten Romane, in einer Neuübersetzung herausgekommen**.
Es dauert Minuten, bis Sybille Bedford es die wenigen Meter bis an die Haustür schafft, um ihrem Besuch aufzuschließen. Sie ist seh- und gehbehindert und hat ihre Wohnung - mehr Höhle als Haus - seit Jahren nicht mehr verlassen.
Mit dem angenommenen nuscheligen, aber merkwürdig scharfen Akzent der britischen Oberschicht erzählt sie aus ihrem bunten, mondänen Leben, das sie in ihren Büchern, kunstvoll verwoben in Fiktion, schon vor Jahren mehr verwischt als ausgebreitet hat. Vollwertige Memoiren, insistiert die alte Dame, seien »Quicksands« keineswegs: »Ich habe nur ein Fünftel von dem aufgeschrieben, was ich wirklich erlebt habe.«
Aber auch in der kondensierten Version ihrer Lebensgeschichte ist ihr ein rares Kunststück geglückt: Sie ist deutlich geworden und dabei diskret geblieben. Das Buch ist der späte Schlüssel zu ihren Romanen, die sich nun als kunstvolle Verarbeitungen, Überhöhungen und raffinierte Spiegelungen ihrer bisweilen labyrinthischen Lebensgeschichte lesen lassen.
Geboren wurde Sybille Bedford 1911 in Charlottenburg. Ihr Vater, Maximilian Baron von Schoenebeck, war, frisch verwitwet, Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit der kapriziösen Elizabeth Bernhard, einer reichen Engländerin, verlobt. Maximilian war ein Sonderling. Im Schlosspark zog er etwa vor den Eseln zum Gruße seinen Hut. Ein solcher Mann war selbst der Britin suspekt. Sie wollte die Verlobung mit dem Exzentriker lösen.
Doch dann erschütterte die sogenannte Allenstein-Affäre, ein saftiger Sexskandal, die Familie Schoenebeck und die bessere Gesellschaft: Maximilians Bruder, Gustav von Schoenebeck, war Kommandant eines Regiments im ostpreußischen Allenstein. Seine attraktive Frau Antonie sei, so sieht es Sybille Bedford heute, eine Lehrbuch-Nymphomanin gewesen, sie »schlief mit dem halben Regiment« - vom Burschen
bis zum Offizier. Der letzte Liebhaber war ein Hauptmann. Am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1907 kam er zum Essen. Nach dem Diner erschoss er seinen Vorgesetzten. Antonie hatte ihn angestiftet.
Elizabeth Bernhard, die reiche Britin, die Maximilian Schoenebeck, den Bruder des Ermordeten, eigentlich hatte verlassen wollen, heiratete ihn dann doch. Sie mochte den Kummer der Familie nicht vergrößern. Sybille, ihr einziges Kind, wurde ein paar Jahre später geboren.
Die Ehe der Eltern war kein Erfolg, die Mutter verließ die Familie nach ein paar Jahren, heiratete später einen sehr viel jüngeren Italiener und verfiel noch später dem Morphium. Sybille blieb mit Privatlehrern und dem skurrilen Vater in Deutschland zurück. Sie »las zu viel und wusste zu wenig« damals, wie sie heute meint.
Sie wollte mehr vom Leben als Bücher. Irgendwo da draußen lockte die Welt, Sybille riss aus und kam vorübergehend bei der Halbschwester unter.
Fluchtbewegungen ziehen sich als Muster durch Bedfords Leben. Sie selbst hält sich für eine stets »Davongekommene«, die immer gerade »durch Zufall« noch zur rechten Zeit die Kurve bekam. Bevor die Nazis in Deutschland regierten, war Bedford, deren Mutter jüdischer Abstammung war, schon weitergezogen.
Sybille lebte in Italien, Frankreich und England, bereiste Mexiko und die USA und wurde nirgendwo richtig heimisch. Nur in der Literatur und in der englischen Sprache, in der zu schreiben sie sich entschlossen hatte. Eine noble Nomadin.
Sie begann, Romane zu verfassen. Einer, »A Legacy«, verarbeitete die Allenstein-Affäre und sorgte in Großbritannien sofort nach seinem Erscheinen 1956 für Aufsehen. Auf Deutsch kam »Ein Vermächtnis« 2003 in Hans Magnus Enzensbergers »Anderer Bibliothek« neu heraus. In ihrem zweiten internationalen Erfolg, »Ein Liebling der Götter« von 1963, beschreibt sie das Schicksal dreier eigenwilliger Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und führt subtil zurück in die schwierige Zeit ihrer Kindheit.
Schauplätze sind die Bedford-Territorien Italien, Frankreich und England, Hauptperson ist Anna, eine reiche Amerikanerin, die einen römischen Fürsten geheiratet und dessen Finanzen saniert hat. Als sie herausfindet, dass er sie seit Jahren mit einer Freundin des Hauses betrügt, verlässt sie ihn und beginnt eine rastlose Reisetätigkeit. Tochter Constanza folgt ihr, hin- und hergerissen zwischen Vater und Mutter.
Was eine billige, beleidigte Abrechnung mit den Unzulänglichkeiten der eigenen Eltern und den Verletzungen in ihrer Kindheit hätte werden können, transponiert Bedford zu einer hinreißenden Gesellschaftsstudie. Köstliche Dialoge, bizarre Begebenheiten, feinsinnige Beobachtungen
machen dieses Buch zu einem geistreichen Lesevergnügen, dessen Glanz leuchtet und nicht blendet.
Wer hinter die mit dem Schmirgelpapier der Kunst geglättete Lebensfassade schauen will, wer auch die Trauer und den Schmerz, die sich hinter der Eleganz des Erzählens verbergen, verstehen will, muss zusätzlich »Quicksands« lesen. Denn das rastlose Leben der Autorin mutet tatsächlich an wie auf den Treibsand gebaut, den der Originaltitel beschwört.
Geldsorgen plagten sie immer wieder, das unglückliche Verhältnis zur Mutter quälte sie und das Ringen um einen eigenen Schreibstil, eine eigene Sprache.
Ende der zwanziger Jahre, der geliebte Vater war gestorben, landete Bedford in Sanary-sur-Mer in Südfrankreich - für wenige Jahre the place to be für die deutschen Literaten in der Emigration.
Thomas Mann und die Seinen kamen in die Sommerfrische der Künstler, der Autor Lion Feuchtwanger und viele mehr. Bedford besorgte den Manns eine repräsentative Residenz und amüsiert sich noch immer über den Spruch, mit dem Dichtergattin Katia den aufwendigen Lebensstil rechtfertigte: »Wir schulden es dem Weltruhm.«
Mit dem Schriftstellersohn Klaus war Sybille »sehr eng befreundet«, in Sanary am engsten allerdings mit Aldous Huxley, dem Autor von »Schöne neue Welt«, und dessen Frau Maria.
Als die Nazis in Frankreich vorrückten, löste sich die Künstlerkolonie auf. Sybille wusste nicht, wohin. Die Huxleys waren pragmatisch. Ihre lesbische Freundin musste Britin werden. Und das ginge nur, fand Mrs. Huxley, wenn »wir einen unserer Homo-Freunde dazu bringen, Sybille zu heiraten«.
Doch niemand wollte die nahezu mittellose Deutsche haben. Schließlich erbarmte sich Walter Bedford, ein unscheinbarer Angestellter in einem Nachtclub, der bald, »wie vorhergesagt, wieder mit seinem bisherigen Leben verschmolz«.
Die Liebe kam für Bedford später. In ihren Memoiren beschreibt sie lakonisch, originell und selbstironisch auch diese Seite ihres Lebens. Nach dem Krieg lebte sie in Rom. Bedford freundete sich mit einem jungen, frischverheirateten Ehepaar aus den USA an. Als die Frau krank wurde, pflegte Bedford sie. Der Gast bedankte sich mit den von Bedford lange gefürchteten »drei fatalen Wörtern": I love you. Sybille kapitulierte vor diesem Geständnis und spricht heute von »einer der glücklichsten Beziehungen«, die sie je hatte.
»Reich und schwierig« sei ihr Leben gewesen, sagt Bedford mit preußisch-britischem Understatement und dankt dem Besucher für das Gastgeschenk, eine Flasche Chinon: »Ich mag diesen Wein«, behauptet sie.
Es klingt allerdings, als habe sie im Leben schon Besseres bekommen.
JOACHIM KRONSBEIN
* Sybille Bedford: »Quicksands«. Verlag Hamish Hamilton, London; 372 Seiten; 20 Pfund. ** Sybille Bedford: »Ein Liebling der Götter«. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier; Verlag Schirmer Graf, München; 384 Seiten; 22,80 Euro.