Kritiker Treu und kämpferisch
Der alte Herr seufzt: »Ich habe das allmählich alles satt.« Marcel Reich-Ranicki, 74, regt sich über die zahlreichen Fragen und Anrufe auf, die ihn seit Ende Mai wegen seiner Vergangenheit bedrängen - damals warf ihm eine WDR-Sendung vor, er sei von 1947 bis 1949 führender Geheimdienstmann der polnischen Kommunisten in London gewesen.
Am vergangenen Mittwoch klingelte das Frankfurter Telefon des begnadeten Polemikers fast ununterbrochen. Vorausexemplare der Zeit verbreiteten die Nachricht: Reich-Ranicki wurde zwar, das war bekannt, Anfang 1950 aus der kommunistischen Partei Polens ausgeschlossen; aber, und das war neu, er wurde am 22. Februar 1957, ein Jahr vor seinem Wechsel in die Bundesrepublik, wieder Parteimitglied.
Bisher hatte Reich-Ranicki immer nur von dem Parteiausschluß berichtet, dem eine allmähliche Entfernung von der marxistischen Ideologie gefolgt sei. Eine Lebenslegende, ähnlich der - kürzlich widerlegten - Version, er habe von 1947 bis 1949 lediglich dem polnischen Außenministerium gedient?
Autor des Zeit-Artikels ist der Warschauer Journalist Janusz Tycner, 38, leitender Auslandsredakteur der juristischen Wochenzeitung Recht und Leben. Tycner konnte eine geheime 82seitige Personalakte über den Ex-Konsul Ranicki auswerten, die aus dem ehemaligen ZK-Archiv der Polnischen Arbeiterpartei stammt, sowie eine Personalakte aus dem Außenministerium.
Tycner korrigiert Reich-Ranickis bisherige Selbstdarstellung noch in anderen Punkten: Konsul Ranicki wurde im Oktober 1949, bei einem Besuch in Warschau, überraschend aufgefordert, »seinen Diplomatenpaß abzugeben« - eine Intrige unter anderem von Geheimdienstgeneral Waclaw Komar, der am »bürgerlichen« Hauptmann Ranicki die eigene »revolutionäre Wachsamkeit« beweisen wollte.
Reich-Ranicki hat noch vor vier Wochen bekräftigt, er sei damals, wegen ideologischer Differenzen, »auf eigenen Wunsch von den Posten in London« abberufen worden (SPIEGEL 25/1994).
Der Ausschluß aus dem Geheimdienst und der Partei wurde nicht nur pauschal, wie es bisher hieß, mit »ideologischer Entfremdung« begründet. Man warf, wie ein anderes, dem SPIEGEL vorliegendes Dokument belegt, Ranicki auch vor, die Partei betrogen zu haben, als er in einem Lebenslauf behauptete, er sei 1937 in Berlin der illegalen KPD beigetreten. In Wahrheit hatte der junge Reich lediglich Kontakte zu KPD-Mitgliedern gepflegt.
Ranicki hat sich intensiv bemüht, zunächst den Posten bei der Staatssicherheit, dann aber vor allem die Parteimitgliedschaft zurückzuerhalten. Immer wieder hat er »seine bedingungslose Treue zum Kommunismus« (Tycner) beteuert. Noch Mitte der fünfziger Jahre unterhielt er »weiterhin Kontakte zur Staatssicherheit« und gab Auskünfte »über literarische Kreise der BRD«.
In seiner Londoner Zeit hat er etliche Exil-Polen, die im Konsulat angestellt waren, entlassen. Bisher erklärte er stets, sein Londoner Wirken habe niemandem geschadet.
Reich-Ranicki widerspricht: »Ich habe niemals das Parteibuch wiedererhalten, ich bin nicht in die Partei wiederaufgenommen worden.« Er hält es für möglich, daß nach dem Oktober 1956 im Rahmen einer allgemeinen Rehabilitation ausgeschlossener Mitglieder auch sein Fall revidiert wurde - »nur hat man mich hierüber nicht informiert«.
Und seine Bitten um Wiederaufnahme? Reich-Ranicki: »Zunächst war es mein unveränderter Glaube an den Kommunismus, dann aber mußte ich so tun, als ob ich unbedingt in der Partei bleiben wollte. Sonst hätte ich als Kritiker nicht publizieren können. Das Schreibverbot von 1953 zeigt doch, wie wichtig die Partei für mich war. Und wie bedrohlich.«
Daran, daß er Exilpolen aus dem Londoner Konsulat gefeuert habe, kann sich Reich-Ranicki »nicht erinnern«. »Überdies durfte ich niemanden feuern. Das ging nur auf Weisung aus Warschau. Natürlich wurden Leute entlassen - mit Verbindungen zu den antikommunistischen Exilkreisen.«
Womöglich haben Berichte, die Geheimdienst-Kapitan Ranicki nach Warschau schickte, entsprechende »Weisungen« von dort ausgelöst. Reich-Ranicki bestreitet dies. Er bestreitet auch die späteren Kontakte zur Staatssicherheit sowie jegliche Mitwirkung an den Konsulats-»Säuberungen« von 1949 und an jenen Rückführungen exilpolnischer Offiziere - ihnen wurde 1951 in Warschau der Prozeß gemacht -, die sein Vorgesetzter Komar 1949 koordiniert hat.
Tycner, vom SPIEGEL mit dem Dementi des Kritikers konfrontiert, hält die Dokumente über die Parteiaufnahme von 1957 für »absolut glaubwürdig«.
Den Parteiausweis mußte sich Reich-Ranicki bei der zuständigen Bezirksgruppe abholen. Daß er es nicht tat, hält Tycner für »fast unmöglich«, da er um dieses Papier wie ein Löwe gekämpft habe, noch 1956 mit sechs Empfehlungsschreiben von Parteigenossen. Da er damals Reisen ins westliche Ausland plante, mußte er auch aufpassen, daß er nicht durch irgendwelche Unterlassungen auffällig wurde.
Dafür, daß Reich-Ranicki sich (und die Öffentlichkeit) in seiner Parteigeschichte täuscht, spricht noch ein anderes Dokument, das dem SPIEGEL vorliegt. Am 6. Juli 1961 schickte der Leiter der ZK-Kulturabteilung, W. Krasko, eine Charakteristik Reich-Ranickis an die ZK-Auslandsabteilung, in der es heißt: _____« 1956, nach langen Bemühungen um Rehabilitierung und » _____« Anstrengungen bei der Dokumentierung seiner kämpferischen » _____« Haltung . . . in der literarischen Publizistik, wurde » _____« Ranicki der Parteiausweis zurückgegeben. Heute schätze » _____« ich diese Entscheidung als nicht berechtigt ein. »
Anlaß dieses Gutachtens war eine Anfrage der ostdeutschen SED vom 17. April 1961. Die Berliner Genossen suchten kompromittierende Informationen, um Reich-Ranickis »antibolschewistische literarische Kampagne im Westen« (gemeint sind seine Artikel über DDR-Literatur) zu schwächen.
Daß Warschau diesen Störenfried 1957 (die Jahreszahl 1956 meint wohl den generellen Rehabilitierungsbeschluß) wieder in die Partei aufgenommen hatte, war dem Genossen Krasko offenbar unangenehm. Er hätte den Vorgang lieber verschwiegen. Ein Indiz dafür, daß es wirklich passiert ist.
Bisher - ein anderer Punkt - hat Reich-Ranicki stets gesagt, seinen Geburtsnamen »Reich« habe er 1948 in London durch »Ranicki« ersetzt, erst 1958 sei daraus der Doppelname mit Bindestrich geworden, als Markenzeichen des Kritikers.
Da mutet es seltsam an, wenn am 14. Februar 1950 die polnische ZK-Referentin Z. Godlewska die Auslandsabteilung um »Übersendung der Meinung« zu den »Genossen: 1/ Reich-Ranicki Marceli - England 2/ Reich-Ranicka - England« bittet.
Reich-Ranickis Lebensweg vom Warschauer Ghetto über den Geheimdienst bis zur kommunistischen Partei eignet sich nicht als Urteilsstoff für postume Moralapostel. Seine Schwierigkeiten mit der Tugend der Wahrhaftigkeit allerdings provozieren die Erinnerung an Tugendsentenzen, die der Kritiker 1987 über die »DDR-Staatsdichterin« Christa Wolf schrieb: »Mut und Charakterfestigkeit gehören nicht zu den hervorstechenden Tugenden der geschätzten Autorin.« Y