Ulrich Sonnemann über Arno Plack: "Die Gesellschaft und das Böse" TRIEB, MORAL UND »MORAL«
Es handelt sich um die Kinder: um den verzweifelten Kampf ihrer Interessen gegen die sich selbst fortzeugende Herrschaft der Infantilen. Da deren Verklemmtheit neue Infantile züchtet, reißt so bald weder die Herrschaft ab noch der Kampf. Als Grundkonflikt der Gesellschaft ist er die Wahrheit dieses streitbaren Buches.
Im späten Gefolge Freuds, der dabei allerdings revidiert wird, da der Autor eine Naturbedingtheit des Aggressionstriebs nicht wahrhaben will, läuft seine These darauf hinaus, daß die Misere der Weltgeschichte aus der Misere ihrer Produzenten stammt, der Erwachsenen, deren eigene Misere aber aus der, die von Unterdrückungen kindlicher Sexualität, welche ihrerseits schon von ihresgleichen verursacht waren, derart einprägsam an sie weitergereicht werden, daß die Kette sich fortsetzen muß. Es ist die Kette der Menschheit selber, die sie von Hochkultur zu Hochkultur immer weiterschleppt, also abgesehen etwa von den Eskimos; aber selbst diese Menschen benahmen sich wie Menschen viel mehr, ehe man sie getauft hatte, als hinterher.
Gefordert wird daher eine Erziehung. die jene Regungen nicht mehr verpönt, sondern gewähren läßt, eine Erziehung, die den Willen und damit das Zeug hätte, den verhängnisvollen Nexus rachsüchtiger Charaktere zu brechen. Denkbar ist sie nur in einer Gesellschaft, in der Triebunterdrückung überhaupt aufgehört hätte, in der die Moral, jetzt Feind der Vernunft diese annähme.
Für Placks Gedanken spricht vieles. Der mörderische Zyklus Triebunterdrückung -- Ausbruch in Aggression -- neue Unterdrückung, in dem in eingefleischter Vernunftlosigkeit sich die menschliche Gesellschaft bewegt, muß sie weiter in Kriege treiben. Außer er wird durchbrochen, kommt dieser Zyklus nicht eher ans Ende, als er der Gesellschaft das ihre bereitet hat. Durchbrochen werden kann er, da er konstitutiv durch die Seelen selbst läuft und von ihrer anerzogenen Verbogenheit seine immer neuen Impulse empfängt. nur in den Seelen. Daher wird keine ihrer guten Absichten, die ihre Güte nicht beargwöhnt, den Zyklus brechen, solange in den Seelen selbst dafür gesorgt ist, daß die Absicht in ihr Gegenteil sich verkehrt.
Plack: »Der Pazifismus, den die Wasserstoffbombe erzwingt, wird dem alten moralischen Gebäude aufgestockt. Zu allem, was die Moral uns abpreßt, haben wir jetzt auch noch eine »außerordentliche moralische Anstrengung« für den Weltfrieden zu leisten. Aber das macht die Sache auch schon wieder unglaubwürdig, besonders dann, wenn der »heiße Wunsch« nach Frieden diesen nur unter der Bedingung erblickt, daß die jeweils eigenen Ideale sich überall durchgesetzt haben.«
Allzu billig wäre es, den letzten Satz gegen seinen Autor zu wenden. Mindestens ist eine Situation, in der die Triebbefreiung ihrerseits schon zum ideologischen Fetisch erstarrt ist, nicht akut.
Während Plack am Marxismus, an seiner Anthropologie-Blindheit, in der er versackte, Kritik übt, nimmt er differenzierend ihn in Schutz gegen selbstgefällige Bürgerlichkeit. Nicht die Revolutionsidee, nur ihre Vorform hat versagt, die in ihrer Selbstverkennung und der Verkennung ihres Feindes die Verinnerlichung von Repression übersah. Daß »alle Unterdrückung ... im Grund Triebunterdrückung« sei, schafft dem Impuls gegen diese eine neue Front, die durch die Individuen selbst läuft.
Kein Kompromiß wird in den brennpunkthaften Erörterungen dieses Buches mit der deutschen Ideologie geschlossen: Die »außerordentliche moralische Anstrengung«, gegen die Plack polemisch sich wendet, stammt, zweifach aus dessen Texten zitiert, von C. F. von Weizsäcker. Sie ist einer jener Begriffe, die geschichtsnotorische Luftballons sind, nicht nur ihrer außerordentlichen Leere wegen, sondern weil sie dem Ernst, den sie beschwören, so entgegenwirken wie jene dem eines Kindes.
Automatisierter Applaus ist frommen Sprüchen im deutschen Nachchristentum sicher. Eine Ritualisierung des reinen Bauches frönt der Bekenntnissüchtigkeit eines Publikums, das geschichtlich für sie konditioniert ist, schon so, daß sie es im Effekt beruhigt sie kann diesem Publikum nicht nur die besagte moralische Anstrengung, die sie selbst schon völlig aufbraucht, ersparen, sondern das Anzustrengende obendrein.
In der Tat kann die Moral, wo man so etwas gar nicht bemerkt, kaum schon da sein. Da sie nicht kodifizierbar ist, fügt sie erst recht sich in keinen Katalog ihrer Anrufungen, die dann auf Abruf bereitstehen. Vielmehr ist Moral einfach die Urteilskraft eines empfindlichen, normalmenschlichen Nervenkostüms. Daher kann sie eines von der Stange, wie es für Festredner konfektioniert wird, nicht aushalten. Vorausberechenbare Applausreize sind ihr verdächtig.
Von Schiller, der dem Publikum den Krieg machen, bis Handke, der es beschimpfen wollte, zielt die Regung der Moral auf nichts so sehr wie die Destruktion ihrer Verkrustungen ab: Zu diesen Verkrustungen zählt die Unterdrückung des Sexualtriebs einschließlich ihrer monogamistischen Obsession. Daß ihr Konzept von der Ehe für deren Wirklichkeit ruinös ist, wird von Plack ausgesprochen, seine Folgerungen sind unverblümt, vorsichtig dabei, ihre Logik ist fast bruchlos. Die je geltende Sitte, die sich mit keinerlei Vernunftargumenten, sondern nur ihrem eigenen Bestehen rechtfertigt, ist nicht Moral, sondern deren Todfeind -- dieser ihrer einzigen Überlieferung, die der »Moral« von je den Garaus macht, folgt Placks Lehre.
Was im Unterschied zur Moral die »Moral« anrichtet, führt er drastisch vor Augen: »Auschwitz war ... nur in einem technischen Sinne »etwas Besonderes. An der Triebstruktur der Gesellschaft ... hat auch seitdem sich nichts mehr geändert. Die kollektive Bereitschaft zum Massaker ist rezessiv. Die Vorkommnisse in der Hamburger »Glocke« oder im Kölner Gefängnis Klingelpütz sind handfeste Zeichen dafür, um so mehr, als eine allgemeine Entrüstung darüber ausblieb.«
Und: »Die Lahmheit der Justiz gegenüber den SS-Mördern, die bisweilen schon beklagt wurde ... kontrastiert augenfällig mit ihrer Fixigkeit bei allem, was die gehegte »Sittlichkeit« berührt, und zeigt damit nur noch einmal, welches die Werte sind, um die sich alles dreht.«
Mit einer Umwälzung der Institutionen allein ohne eine der Menschen selbst würde nichts gewonnen sein, weil keine noch so vernünftigen Institutionen vor ihrer Pervertierung durch menschliche Mißgunst bewahrt bleiben. Diese wiederum versteckt sich hinter der Anonymität des institutionellen Prinzips: »Der Terror durch das Recht, das dem Hassenden beispringt, ist nirgends so groll wie da, wo die sozialen Institutionen für wichtiger gelten als die, die in ihnen leben.« Dreimal darf geraten werden, wo das ist.
In nichts ist Plack denn auch stärker als In seinen Durchleuchtungen institutionalistischer Ideologie. Die Ideologiegefahr, der er selbst sich aussetzt, liegt in der Gegenrichtung. Verabsolutiert wird bei ihm -- zwar nicht grundsätzlich, aber, aus einer Voreingenommenheit für die Gesundheit. allzuoft de facto -- »Natur«.
Was an verdrängter Sexualität in Erziehung und Politik, Wirtschaft, Justiz, Polizei wütet, müßte nach Plack vorerst zu Bett. Aber es wird nicht in ihm landen, wo, wie bei Plack an dessen Pfosten schon wieder neue Verbotsschilder hängen, wenn auch als solche nicht immer gleich kenntliche. Es sind Verbotsschilder, an denen etwas Spielverderbendes ist, da sie die irrende Sexualität dazu verhalten, »vitaipsychisch einzustimmen in den biotischen Grund«, wie zum Beispiel: »gesunde Sinnlichkeit«, »der leibhaft in sich befriedete Mensch«, »sinnenhaft lebensfrohe Gemeinschaft"«, die in ihrer Freiheit bejahte Heterosexualität«, das »lustvolle Einstimmen in den Lebensgrund« und »erfüllte Freude ist nur in der Gemeinschaft« -- als dürfte nicht schon halberfüllte vor der letzteren, dem bloßen Wort Gemeinschaft, gerade Reillaus nehmen.
Im Grund, von dem hier offen bleiben kann, ob er ein Lebensgrund ist oder nicht, ist das gar nicht Placks Duktus. Da es in seinem Stil ein Fremdkörper ist, ist das solcherart Vorgetragene ein Fremdkörper für die Sache, die er vertritt. Der gelegentliche Anflug von sektiererischer Ereiferung erinnert -- wie mit ihm die verwundbarsten Argumente des Textes -- an den Natur-Monismus der alten »Freidenker«.
Während Plack an vielen Stellen sich auf Adorno stützt, übersieht er dessen Verteidigung der als »pervers geächteten Partialtriebe« gegen die von diesen »ganz gereinigte«, »zum Punkt zusammengeschrumpft(e)« Genitalität. Placks Vorurteil, daß alles, was dieser sich nicht fügt, schon aus Repression stamme, ignoriert deren Gegenmacht, die Phantasie, die er bedenkonlos und beweisschwach -- in einer Polemik gegen Mitscherlich -- der Magie zuschlägt.
Während Plack der Sublimationstheorie Freuds mit viel empirischem Recht den Prozeß macht, hat er in dem Letztgenannten Punkt die Erfahrung ebenso gegen sich wie den Geist. Zuzüglich Berufungen auf schummrige Mythologen wie C. G. Jung, eines Restes von Affekt gegen die Homosexuellen und einer Laudatio auf solche »Leibbejahung«, wie sie Turnvereine und Burschenschaften betreiben, ergibt das ein Syndrom des leicht Besorgniserweckenden, da Frischfröhlichen.
Gewiß wird auch der Bewegungstrieb unterdrückt, sitzen TV-Begucker, Automobilisten, Geistesarbeiter zu reichlich. Aber auch ohne Rekurs auf eine hypothetische »Bewegungsaskese«, gegen die vieles spricht, ließe sich das ändern. Unsere Sorge lautet dahin, daß noch energischste Triebbefreiung, als Gesundheitsfetischismus« bedrückend würde, wenn ein versehentlich enterotisierter Sexus sich dabei immer noch nicht so befreit hätte, wie er sich langweilte.
Die Sorge bleibt beiläufig; die nächste Veröffentlichung dieses Autors kann sie zerstreuen. Schon in dieser hat Plack mit der Mehrzahl seiner Ausführungen recht.
Placks Kritik an der Lehre von Lorenz ("Das sogenannte Böse") ist schlüssig Seine Polemiken -- etwa gegen die hartnäckige Scheinhaftigkeit einer klug gesteuerten Sexualrevolution, hinter deren Fassade man in Deutschland »prüder als noch vor 20 Jahren« ist; was er mit Beispielen begründet, die von Prostituiertenjagden über das verschämte Schild des »Hautarztes« bis zu verfassungswidriger Sittenselbstjustiz in Industriebetrieben reichen -, diese Polemiken sitzen in unseren Verhältnissen derart richtig, daß das kritisch gegen ihn Einzuwendende, in manchem Punkt auch noch Ergänzbare, sekundär bleibt.
Letzteres bezieht sich durchweg auf seine tiefenpsychologisch-anthrOPOlOgische Theorie -- denn, schließlich, was würde, wie Placks eigene Aggressivität zeigt, ohne das Wahrheitspotential von Aggression aus der von dieser verunstalteten Menschheit?