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THEATER Triumph des Schwachsinns

Die Berliner Schaubühne entdeckt und zelebriert Minidramen des bisher unbekannten Cami. *
aus DER SPIEGEL 40/1983

Die Illusion ist fast perfekt: Wer die Schaubühne betritt, um Camis »Dramen aus dem täglichen Leben« beizuwohnen, kommt in ein Pariser Cafe; plissierte Wände, kleine Tische, eine Bühne mit rotem Samtvorhang, in der Ecke ein Klavier, an den Wänden Art-Deco-Lampen, die schummerig gedimmt sind. Auf den kleinen Tischen stehen Rotweinflaschen und Gläser. Ein Abend, an dem Lach- und Weinzwang besteht.

Der Bühnenbauer Karl-Ernst Herrmann hat diese schwummrig schwüle Atmosphäre eines kleinbürgerlichen »Oh, la, la!«-Paris um die Minidramen des Pierre Henri Cami von allen Seiten auf den Zuschauer einstürzen lassen. Es sind die ins Groteske verzeichneten Theaterträume und Lebensängste, die ein bis dato in Deutschland völlig unbekannter französischer Komiker, Witzseitenjournalist und Zeichner, der 1884 in Südfrankreich geborene, 1958 in Paris verstorbene Pierre Henri Cami schrieb: Stücke, oft nur von der Länge weniger Minuten, die sich weder um Zeit noch Raum, weder um Sinn oder Logik, noch um Leben oder Tod kümmern.

Die Helden verleben etwa am Nordpol eine Nacht von sechsmonatiger Dauer; zum bösen Wolf, der schon wieder mal als Großmutter verkleidet ist, steigt ein Grünkäppchen ins Bett, das allerdings schlauer ist als ihre rothäubige Vorläuferin und das böse Tier einfach nicht fragt, wozu es ein so großes Maul hätte. Und ohne Stichwort kann es der Wolf einfach nicht verspachteln.

Man merkt schon: Camis Stücke sind auch Theatersatiren, die sich über theatralische Unwahrscheinlichkeiten lustig machen, indem sie die ins Bodenlose übertreiben, ins Grenzenlose stoßen.

Romeo und Julia etwa können da mittels eines Schlaftrunks die Familienfeindschaft sechzig Jahre lang verpennen, ohne zu altern. Zu ihrem Pech jedoch altert der angesetzte Embryo im Bauch und kommt neunundfünfzigjährig auf die Welt, um die Eltern doch noch hinzumetzeln, da er halb Montague, halb Capulet ist.

Wilhelm Tell wiederum macht aus seiner Apfelschußszene einen Dauerbrenner: Er zieht über die Dörfer und armbrustet so viele Äpfel vom Kopf seines Sohnes, daß er eine Apfelweinkelterei aufziehen kann. Seine neue Tragödie: Er schießt schließlich besoffen auf Apfel und Kind und tötet letzteres.

Camis garantiert geschmacklose Nes-Stücke, die sich quick zu einer Pointe auflösen, sind in ihren schwächsten Momenten

gepreßte Schülerscherze oder gedehnte Schwiegermutterwitze, in ihren stärksten Augenblicken surreale Hohnbilder auf die Vorstellungswelt melodramatisch verbildeter Spießer.

Da rächen sich gehörnte Ehemänner erst im Tode, indem sie bei ihrer Beerdigung einen Film plus Grammophonaufnahme laufen lassen, um die untreue Ehefrau samt ihrem Galan vor aller Öffentlichkeit bloßzustellen: Der meckernde Ruf »in flagranti« durchtönt alle Stücke. Natürlich wabern durch diese Stücke neben Liebe, Haß und Musikliebe auch die unerbittliche Pflicht und der unaufhaltsame Gehorsam.

Wenn Terroristen mittels eines übergroßen Sektkorkens einen Eisenbahntunnel verschließen, um den D-Zug ins Unglück rasen zu lassen, dann hat der kleine Sohn des Bahnwärters zum Glück im Unglück die Röteln und opfert seinen heißroten Schädel als Signal, um den Zug zum Stoppen zu bringen.

Das hört sich alles ziemlich schwachsinnig an, und als Triumph des Schwachsinns hat sich die Schaubühne das alles auch gedacht. Sie hat weder an Rotwein, weder an Kostümen, Schauspielern und Masken noch an Bühnenbildern und Gags gespart, um die Minidramen im großen Stile herzurichten. Hinzurichten?

Irgendwie haben die kleinen Sketche und Szenen die protzige Zuneigung, die ihnen von der Schaubühne entgegengebracht wurde, nicht gut überlebt. Lag es einmal daran, daß die Schauspieler (trotz der komödiantischen Bravour von Otto Sander oder Peter Fitz) fast schon mit komischer Herablassung auf die Werke einknödelten?

Und lag es zum anderen vielleicht daran, daß die theaterparodistischen Impulse heute ins Leere treffen, weil wir weder Opernaufführungen haben, bei denen gemalte Dörfer und Wälder in Öl herumwackeln, noch eine »Romeo und Julia«-Aufführung, bei der Julias Balkon wie ein neonazarenisches Kitschgemälde aussieht, an dem sich eine schlichte Leiter grotesk fehl am Platze ausnimmt?

Natürlich zeigt die Schaubühne, daß sie auch einen solchen Studentenulk gewissermaßen promoviert zelebrieren kann. Was man jedoch beim Anschauen der grellen Miniaturen hofft, daß nämlich ihre knallige Komik und ihr deftiger Unsinn auf einmal unheimliche Löcher in die Wirklichkeit reißen, die den strudelnden Sog zumindest einer auslaufenden Badewanne erzeugen, das stellt sich nur selten ein.

Etwa wenn Libgart Schwarz mit aller gebotenen Vernünftelei den Unterschied zwischen Schein und Sein erst behauptet, dann widerlegt, schließlich sich ihm ergibt, dann wird dieser Nonsens-Vortrag zu einer Gehirnakrobatik, die geradewegs zum Rande des Wahnsinns führt. Man merkt, daß Komik nur das letzte verzweifelte Lachen sein kann, hinter dem das Nichts gähnt.

In der Schaubühne gähnte statt dessen manches Mal der Zuschauer, wenn allzu offensichtlich sein kindlicher mit seinem kindischen Sinn verwechselt wurde.

Daß Menschen mit gesteifter Frackbrust wie Pinguine sind, braucht man jedenfalls nicht gleich auf vier Breitwandbühnen zu exekutieren. Wo doch Berlin einen so großen Zoo hat.

Hellmuth Karasek _(Mit Peter Fitz und Tina Engel. )

Mit Peter Fitz und Tina Engel.

Hellmuth Karasek
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