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Gentechnik Trojanische Pferde

In den USA ist ein heikles Experiment angelaufen: Krebskranke werden mit genmanipulierten Zellen behandelt.
aus DER SPIEGEL 6/1991

Geschwächt und von bösartigen Hauttumoren übersät, wurden die Moribunden ans Infusionsgerät gehängt. 20 Minuten dauerte die Prozedur, dann war die durchsichtige Flüssigkeit in den Blutbahnen versickert. Inhalt der Injektion: 100 Millionen geklonte weiße Blutkörperchen.

Mit dem Gentropf, letzten Dienstag an den amerikanischen National Institutes of Health (NIH) verabreicht, wagen sich die Mediziner auf unsicheres Terrain. Erstmals in der Geschichte der Heilkunst sind Zellen mit gentechnisch verändertem Erbgut in die Körper von Krebskranken gepumpt worden. Versuchsleiter Steven Rosenberg: »Ich habe die Patienten über meine Zweifel nicht im unklaren gelassen, sie wissen, daß sie Pioniere sind.«

Die beiden Versuchspersonen, ein 42jähriger Mann und eine 29jährige Frau, gingen das Risiko ein - mangels Alternative. Sie leiden an einem malignen Melanom, einer besonders tückischen Krebsart, die im fortgeschrittenen Stadium weder mit Chemotherapeutika noch mit Bestrahlung gestoppt werden kann. Wie ein Lauffeuer zerstören die rotviolett und schwarz schimmernden Male die Haut, sie siedeln Tochtergeschwülste in die inneren Organe ab und führen meist innerhalb weniger Monate zum Tod. Allein in den USA sterben jährlich etwa 9000 Menschen an dem »Schwarzen Hautkrebs«.

Gen-Mediziner Rosenberg ist bekannt für »heroische Therapien«, wie Ärzte solches Vorgehen nennen. Seit 16 Jahren verwirrt der gelernte Chirurg aus New York die Fachwelt mit immer neuen Roßkuren. Nach mehreren aufsehenerregenden Versuchen mit den krebshemmenden Wirkstoffen Interferon und Interleukin-2 gilt er als »Superstar« (Newsweek) und Apologet einer »Medizin der Zukunft« (Die Welt).

Das bei den Krebspatienten verwendete Remedium gleicht einem Rudel trojanischer Pferde. In weiße Blutkörperchen, die zuvor den Kranken entnommen worden waren, implantierten die Forscher ein fremdes Gen, das die Produktion des sogenannten Tumor-Nekrose-Faktors (TNF) steuert. Nach monatelangen Mühen gelang es, die Blutzellen so weit umzupolen, daß sie genügend große Mengen des ihnen fremden Eiweißmoleküls ausbrüteten - vergleichbar einer Taube, die Spatzeneier legt.

Normalerweise wird das TNF von den Makrophagen, den großen Freßzellen des Immunsystems, gebildet und dient der Bekämpfung von Tumorzellen. Nach Art einer ätzenden Säure umspült das Enzym die wuchernden Geschwülste, zersetzt, verflüssigt und vernichtet sie schließlich. Die Mediziner nennen diesen Heilungsprozeß Lyse.

Mit seinen im Labor umgebauten weißen Blutkörperchen hat Rosenberg gleichsam eine künstliche Krebspolizei gezüchtet. Mit jeder Infusion werden die manipulierten Zellen massenhaft in die Blutbahn der Kranken gespült. Dort sollen sie, so der Plan, durch die Adern zirkulieren und Jagd auf Metastasen machen.

Noch vermag jedoch niemand zu sagen, ob die Tumorkiller nicht auch gesunde Organe attackieren. Wie gefährlich das TNF-Enzym ist, zeigten frühere Versuche, bei denen der Geschwulstknacker TNF gleichsam pur, ohne Mutterzellen, verabreicht wurden. Lag die Dosis niedrig, blieb sie wirkungslos; wurde die TNF-Menge erhöht, griffen die Anti-Krebs-Faktoren wahllos auch gesundes Gewebe an und verursachten einen verheerenden Zerstörungsprozeß - die Kranken verloren rapide an Gewicht und Widerstandskraft.

Bei der neuen Rosenberg-Methode könnten, wie Experten der US-Arzneimittelbehörde befürchten, einige der eingeschwemmten TNF-erzeugenden Zellen die angepeilten Hautkrebszellen verfehlen. _(* Im Hintergrund Plastikbeutel mit ) _(Infusionslösung. ) Würden sich solche Blindgänger etwa in die Niere oder einem anderen gesunden Organ einnisten, könnten sie dort ein unbeabsichtigtes Zerstörungswerk verrichten.

Erst nach langem Zögern erteilten Anfang letzten Monats die staatlichen Behörden die Erlaubnis für den heiklen Menschenversuch. Zu unausgereift schien das Verfahren, zu unberechenbar waren die Folgen. Sogar Rosenberg spricht von einem »sehr frühen Entwicklungsstadium« seiner Heilmethode, beteuert jedoch: »Wir arbeiten rund um die Uhr.« NIH-Mediziner Kenneth Culver drückt sich klarer aus: Das Unternehmen sei »eine Black box«, bei der man zwar weiß, was hineingeht, aber nicht, was sich drinnen abspielt.

Bislang können sich die Experten nur auf eine einzige Gentherapie am lebenden Menschen berufen. Im Herbst letzten Jahres war ein vierjähriges Mädchen, das an einer extrem seltenen Stoffwechselkrankheit leidet, mit genmanipulierten Zellen behandelt worden, die diesen angeborenen Defekt beheben sollten. Die Gesundheit des Kindes, so heißt es, mache Fortschritte.

Bei den Melanomkranken soll die Genkur, um die Gefahren gering zu halten, peu a peu anlaufen. Die letzte Woche verabreichte Dosis von 100 Millionen Zellen war nur der Auftakt. Bleiben Nebenwirkungen aus, soll die Infusionsmenge schrittweise auf 300 Milliarden Zellen gesteigert werden. Erst bei dieser Menge - sie liegt weit über der natürlichen TNF-Produktion des Organismus - hoffen die Fachleute auf Wirkungen an den Geschwülsten.

Der quirlige Rosenberg glaubt sich jedenfalls auf dem richtigen Weg. Schon liegen Pläne vor, die gentechnische Waffe bei 50 weiteren Melanomkranken zu erproben und auch auf andere Krebsarten auszudehnen. »Wir versuchen eine neue Tür aufzustoßen«, sagt der Gentherapeut »und wir werden besser und besser.«

* Im Hintergrund Plastikbeutel mit Infusionslösung.

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