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TROTZ CHINA ÜBERLEBEN?

aus DER SPIEGEL 16/1965

Der englische Labourpolitiker Patrick Gordon Walker, 58, Harald Wilsons Außenminister für weniger als 100 Tage, derzeit mit einer diplomatischen Sondermission in Südostasien betraut, hat in Oxford Geschichte studiert und gelehrt. Walker, der 1931 und 1932 auch an deutschen Universitäten (Heidelberg, Freiburg, Berlin) studiert hat, schrieb unter anderem eine »Geschichte Europas im 16. und 17. Jahrhundert« und ein Werk Ober das britische Commonwealth. - Der Engländer Arnold J. Toynbee, 76, ist einer der berühmtesten Historiker der Gegenwart. Sein Hauptwerk: »A Study of History«.

Toynbee ist der Einstein der Historiker. Niemand hat seine eigene Zeit und Epoche so unbefangen, so sachlich-distanziert beobachtet wie er. Kein anderer ist so vertraut mit fremden Zivilisationen - er beschreibt sie, als ob er selbst in ihnen lebte.

Indem er uns gleichsam von einem Blickpunkt außerhalb unseres winzigen Universums betrachtet, hat Toynbee Erkenntnisse nach Art der Relativitätstheorie gewonnen und unser ganzes Zeitalter damit beeinflußt. Nie vergesse ich die Erregung, mit der ich als junger Dozent in Oxford die ersten Bände seiner »Study of History« verschlang. Ich trug sie überall mit mir, las sie im Zug, im Autobus und in der Untergrundbahn.

Die weiteren Bände des Werkes scheinen mir etwas von seinem Zauber zu verlieren. Toynbees spätere Schriften las ich mit größerem kritischen Abstand - nicht weil sein Einfluß auf mich geschwunden wäre, sondern weil er sein eigenes höchstes Niveau nicht mehr ganz erreichte.

Etwas von dem alten Zauber ist jedoch im ersten Teil des jetzt in Deutschland erschienenen Buches »Die Zukunft des Westens«, einer Vorlesungsreihe unter dem Titel »Das heutige Experiment der westlichen Zivilisation«, wieder eingefangen.

In einer kurzen, brillanten Beschreibung der hellenischen Welt im Jahre 225 v. Chr. zieht Toynbee Parallelen zur westlichen Zivilisation im 19. Jahrhundert. Dann werden wir in ungestümen, aber sicheren Schritten weitergerissen - je Seite ein Jahrhundert. Im Jahre 125 v. Chr. haben wir zugleich auch unsere eigene Gegenwart erreicht.

Die historische Parallel-Darstellung wird bis 475 n. Chr. fortgeführt - bis zu einem Zeitpunkt, der nach Toynbee dem zukünftigen Jahr 2300 in unserer Zivilisation entspricht. Um 475 n. Chr. war die hellenische Welt, die um 225 v. Chr. so gesichert schien, untergegangen - teils durch Krieg, teils durch Revolutionen. Neue Zivilisationen hatten sich gebildet; sie wurden von großen Religionen bestimmt, die nicht im Griechentum wurzelten.

Geschichte, so warnt uns Toynbee, kann sich durchaus wiederholen. Was der hellenischen Zivilisation widerfuhr, ist eine der Alternativen, vor denen heute der Westen steht.

Aber die westliche Zivilisation ist, wie Toynbee schon früher hervorgehoben hat, in einigen Punkten einmalig. In der Mitte des 17. Jahrhunderts war sie eine unter einem halben Dutzend rivalisierender Zivilisationen. Sie eroberte die Welt durch die Verbindung von Wissenschaft und Industrie. Ihre Waffen waren unwiderstehlich.

Zum bedeutsamsten Zusammenprall kam es mit China, das drei Jahrtausende lang mit der Überzeugung gelebt hatte, die einzige Zivilisation zu sein - im Abendland hatte man sich erst seit 300 Jahren für einzigartig gehalten.

Der aufrüttelndste und erschreckendste Satz des Toynbee-Buches steht auf Seite 42: »Ich habe das Gefühl, daß unsere westliche Welt des 20. Jahrhunderts genötigt sein wird, für die Sünden, die die westliche Welt des 19. Jahrhunderts an China begangen hat, Reparationen mit Zins und Zinseszins zu bezahlen.«

Der Wendepunkt kam 1949, als die Russen ihre erste Atombombe zündeten. Zum erstenmal seit 300 Jahren stand dem Westen eine Macht mit ebenbürtiger Waffengewalt gegenüber. Bis dahin schien die westliche Entwicklung in derselben Richtung zu verlaufen wie die hellenische der entsprechenden Periode. In einem entscheidenden Punkt jedoch gab es einen Unterschied: Die Völker, die sich vom westlichen Imperialismus befreit hatten (entsprechend jenen, die einst gegen die Expansion der Griechen revoltierten), übernahmen doch freudig westliche Lebensformen, westlichen way of life. Sie nennen es »modern« - aber das ist nur eine beschönigende Umschreibung für »westlich«.

Toynbee schreibt: »Die nicht westlichen Männer und Frauen, die den Westen mit seinen eigenen Waffen besiegten, wurden dabei geistig von der westlichen Lebensweise gefangen.« Was sie anzog, war weder die Demokratie noch die Wissenschaft, sondern soziale Gerechtigkeit. Der Westen hat nicht nur das Ideal sozialer Gerechtigkeit, sondern auch die materiellen Mittel hervorgebracht, dieses Ideal zu verwirklichen.

In 300 Jahren, sagt Toynbee, wird sich die weltweite Emanzipation der Frauen, der Industriearbeiter und der Bauern immer strahlender offenbaren - und aus diesem Grund wird die westliche Zivilisation den Segen der Nachwelt erhalten und verdienen.

Wird die westliche Zivilisation trotzdem untergehen wie einst das Hellenentum?

Ein neuer Weltstaat, meint Toynbee, müsse schnell aufgebaut werden, um die atomare Vernichtung zu verhindern. Weltstaaten sind schon früher unter vergleichbaren Umständen entstanden: in China und in Rom. Der neue Weltstaat müßte sogar noch universaler sein, wirklich weltumfassend.

Ebenso notwendig erscheint dem Autor eine Weltreligion die »Religion Koexistenz«. Die westlichen Religionen seien nicht attraktiv genug, sie glaubten an einen ebenso eifersüchtigen wie liebenden Gott, sie enthielten ein Element der Intoleranz, und denselben Widerspruch gebe es auch im Kommunismus. Den Buddhismus oder den Hinduismus hingegen hält Toynbee für aussichtsreiche Kandidaten.

Etwas unlogisch schließt er mit der Hoffnung auf eine mögliche Zusammenarbeit der beiden großen religiösen Traditionen der Welt, der christlichen und der buddhistisch-hinduistischen. Ist dies, so fragt er, mehr, als man hoffen darf? Es ist mehr, wenn man seiner vorhergehenden Argumentation folgt.

Hier ist sein Gedankengang in der Tat sprunghaft. Von zäh durchdachten historischen Analysen wechselt er zum glaubensbetonten Predigen über. Die Bruchstelle entsteht Mit dem Satz, daß wir uns »entweder mit dem Massenselbstmord abfinden oder lernen müssen, miteinander als eine Familie zu leben«. Dies erfordert die Aufhebung aller Schranken, die jetzt zwischen verschiedenen Rassen, Nationen, Religionen und Ideologien bestehen. Es erfordert eine kompakte allgemeine Vereinigung.

Toynbee mag recht haben: Vielleicht können wir nur gerettet werden, wenn wir all dies schleunigst verwirklichen. Aber der Beweis wird von Toynbee weder erbracht, noch ergibt er sich aus seiner Darstellung. Im Grunde handelt es sich hier um einen prophetischen Kommentar zu unserer gegenwärtigen Situation. Nun kann man wohl einen Historiker beurteilen, aber woher nimmt man den Maßstab für einen Propheten?

Der Weg vor uns, der zum Überleben führen mag, ist vielleicht weniger aufregend, mehr pragmatisch bestimmt.

Tatsächlich erfordert die allgemeine Abrüstung irgendeine Form von weltumspannender Autorität. Mittlerweile können wir unsere Erfahrungen in der Herstellung von Kernwaffen nicht einfach vergessen. Keine große Nation wird zur Abrüstung bereit sein, solange eine andere Nation auch nur eine einzige Atombombe heimlich herstellen kann.

Wir müssen also eine Welt-Autorität zu schaffen suchen, die genug Macht besitzt, um die geheime Herstellung von Kernwaffen zu verhindern. Eine solche Welt-Autorität wäre etwas ganz anderes als ein - vielleicht von einer universalen HinduReligion getragener

Weltstaat. Sie wäre vereinbar mit dem Fortbestand nationaler, religiöser, rassischer Trennungen und Unterschiede. Dieses Ziel scheint mir leichter erreichbar zu sein als das von Toynbee.

Aber wer kann die Menschen ganz ergründen? Wer kann ausloten, wie sich der massive Druck der Angst vor Vernichtung in ihren Seelen auswirken wird?

Der zweite Teil von Toynbees Buch, eine Vorlesungsreihe zum Thema »Amerika und die Weitrevolution«, wiegt wesentlich leichter. Er zeigt auch, wieviel schwieriger es ist, eine kurze Strecke in die Zukunft vorauszublicken, als den Blick über ihre weiteren Horizonte schweifen zu lassen.

Um 1961, als Toynbee diese Arbeit schrieb, sah er nur eine schwache Chance, daß sich die Sowjet-Union einmal dem exklusiven Klub Amerikas anschließen könnte. Heute würde er, davon bin ich überzeugt, die Aussichten besser einschätzen. Er hat weder die Spaltung zwischen Rußland und China vorausgesehen noch den heutigen Rivalitätskampf dieser beiden Mächte um die Gefolgschaft der Entwicklungsländer.

Doch mit keinem Wort kann Toynbee banal werden, nie mangelt es ihm an kühnen Ideen. Sein Buch erfüllt uns mit heilsamen Zweifeln an unserer Wichtigkeit im langen Lauf zukünftiger Zeiten. Es läßt uns einige Hoffnung auf Selbstbehauptung und sinnvolles Fortbestehen, wenn wir uns aufraffen, den Blick zu heben.

Arnold D. Toynbee:

»Die Zukunft des Westens«

Nymphenburger

Verlagshandlung

München

180 Seiten

14,80 Mark

Walker

Historiker Toynbee

Für den Weltstaat eine neue Religion

Patrick Gordon Walker
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