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FORSCHUNG Trübe Linse

Ein Meer von Mikrowellen überflutet die Bürger der technisierten Länder. Schadet diese Form von Strahlung der Gesundheit?
aus DER SPIEGEL 31/1978

Wo weiße Holzzäune die Pferdekoppeln säumen und weitläufige Parks die Landsitze der Kennedys und anderer Superreicher bergen, wo an Amerikas Atlantikküste noch die feine englische Art gepflegt wird -- dort wollte Paul Brodeur schon immer leben.

Vor vier Jahren fand der erfolgreiche Journalist in North Truro auf Cape Cod in Massachusetts ein 8000 Quadratmeter großes Anwesen. Im Mai letzten Jahres begann er mit dem Hausbau.

Da erschien im Lokaiblatt »Provincetown Advocate« ein Leserbrief: Die örtliche Radarstation der U. S. Air Force, die von Osten einfliegende feindliche Bomber und Raketen schon weit über dem Meer orten soll, so warnten zwei Soldatenfrauen, bestreiche auch die ganze Gegend ringsum mit Strahlen hoher Intensität.

Brodeurs neuerworbener Grund und Boden liegt nur eine Viertelstunde Fußmarsch von den Radardomen entfernt. Folgenschwer war das jedoch einstweilen vor allem für die Militärs.

Denn der Publizist ist auf Umweltschutz und Arbeitsmedizin spezialisiert. Mit einem Freund, der ein Gerät zur Warnung vor Radarfallen der Verkehrspolizei besitzt, rückte er an und prüfte den Strahlenpegel: Selbst auf eine Meile Distanz in dichtem Wald waren Anzeigesignale zu vernehmen.

Oberstleutnant Frank Hall, Kommandeur der Radarstation, die zwei Jahrzehnte unbehelligt in Betrieb war, sieht sich nun plötzlich aufgebrachten Anrainern gegenüber. So drängten sich bei einem Informationsabend Anfang dieses Jahres nicht nur 300 furchtsame Bürger in einer Grundschule von North Truro; es erschien auch Harvard-Professor George Wald, Medizin-Nobelpreisträger von 1967, und stellte unbequeme Fragen zur Strahlen-Sicherheit.

Aus den Antworten des Offiziers Hall und seines Standort-Arztes vermochte eine Zuhörerin nur den Schluß zu ziehen: »Wenn ihr unsere Beschützer seid, wer beschützt dann uns vor euch?«

Solch bänglichen Unmut hat Brodeur überall in den Vereinigten Staaten erweckt. Zunächst veröffentlichte er im einflußreichen Wochenmagazin »The New Yorker«, bei dem er Redakteur ist, eine Reportage über die mutmaßliche Gefahr. Seither aber kämpft er als selbsternannter Volksanwalt gegen -- so der Titel seiner mittlerweile auf Buchformat angeschwollenen Anklage -»die Verstrahlung von Amerika"*.

Anders ah radioaktiver Abfall der Atomkraftwerke, als achtloser Einsatz von Röntgengerät oder von Laserblitzen, mit denen vielleicht dermaleinst Satelliten Weltraumkriege führen werden, meint Brodeur, betreffe das Übel bereits die meisten Einwohner der hochtechnisierten Länder: Mikrowellen.

Diese Strahlen dringen von überall her aus als harmlos erachteten Anlagen, nicht allein aus Radarkuppeln, sondern aus Haushaltsgeräten und Einbruch-Alarmsystemen, aus Fernseh-Sendeantennen und Telephon-Relaisstationen. Und doch sollen Mikrowellen, wie Brodeur unterstellt, Ursache verschiedenster Gesundheitsschäden sein -- von Benommenheitsgefühlen bis zu Blindheit und Blutkrebs.

Die Amerikaner mußte es schaudern. Bislang kannten sie diese Strahlenart nur aus alltäglichem Gebrauch -- von modernen Küchenherden, die ein Ei in 40 Sekunden und ein Hähnchen in fünf Minuten garen -- und aus heimtückischem Mißbrauch, als Hilfsmittel sowjetischer Geheimdienstler.

Die amerikanische Botschaft in Moskau, so war 1972 bekanntgeworden, ist seit den frühen sechziger Jahren mit Mikrowellen bestrahlt worden. Ob der KGB auf diese Weise Spionage-Elektronik mit Energie versorgen oder amerikanisches Lauschgerät irritieren wollte, blieb bislang ungeklärt; zugleich aber mehrten sich Gerüchte über rät-

* Paul Brodeur: »The Zapping af America«. W. W.

Norton & Company, Inc., New York; 344 Seiten; 11,95 Dollar.

selhafte Erkrankungen des Botschaftspersonals.

Erst in diesem Sommer verklagte ein amerikanischer Marinesoldat, der zeitweilig in die Moskauer Botschaft zum Sicherheitsdienst abkommandiert war, seine Regierung auf 1,75 Millionen Dollar Schadensersatz. Er hatte einen Sohn gezeugt, der mit einem Wasserkopf geboren wurde; der Erbschaden, plädierte der Vater, sei Folge der Mikrowellen-Bestrahlung, und davor habe ihn das Außenministerium trotz besserem Wissen nicht gewarnt.

Die Strahlung, die nun derart in Mißkredit geriet, ist nicht zu spüren. Der Mensch hat für diese elektromagnetischen Hochfrequenzwellen kein Sinnesorgan, das einen Schutzreflex auslösen könnte; sie erzeugen nicht einmal so etwas wie Sonnenbrand.

Im Spektrum (siehe Graphik) liegen die Mikrowellen -- schon weitab vom schmalen Band des sichtbaren Lichts -- zwischen dem Infrarot (den Wärmestrahlen) und dem Ultrakurz-Bereich des Radios. Die Wellenlänge beträgt Millimeter bis Dezimeter; die Frequenz reicht von zehn Millionen bis zu einer Billion Schwingungen pro Sekunde.

Seit Einführung des Rundfunks in den zwanziger Jahren wird dieser Wellenbereich genutzt. Und zumal seit Entwicklung der Radartechnik im Zweiten Weltkrieg werden die Zivilisationsbürger, ohne es wahrnehmen zu können, gleichsam mit einem rasch steigenden Meer von Mikrowellen überflutet.

Entweder ungewollt neben anderen elektromagnetischen Wellen oder absichtlich werden diese Strahlen allein in den Vereinigten Staaten von rund 10 000 Funk- und Fernsehstationen und 250 000 Relaisanlagen, von 15 Millionen Citizen-Band-Radios und acht Millionen Mikrowellenherden, von medizinischen Apparaten, Video-Terminals und automatischen Garagentoröffnern sowie einer nicht abzuschätzenden Vielzahl militärischer Einrichtungen ausgesendet.

Eine weitere Strahlenquelle von bislang ungekannter Intensität wird schon geplant: Erdumkreisende Sonnenkraftwerke sollen Energien bis zu 10 000 Megawatt -- vergleichbar dem Ausstoß von zehn Kernkraftwerken -- mittels Mikrowellen auf irdische Empfangsantennen übertragen.

Die Physiker und Mediziner konnten diese Strahlenart anfangs gleichwohl für ungefährlich halten. Anders als beispielsweise Röntgenstrahlen (im Spektrum jenseits des sichtbaren Lichts) sind Mikrowellen nicht stark genug, die Bindungen der biochemischen Moleküle im Organismus aufzubrechen; daß sie Krebs oder Erbschäden verursachen könnten, schien mithin gänzlich unwahrscheinlich.

Allerdings dringen Mikrowellen tief in organisches Gewebe ein und erwärmen es dabei, ähnlich wie die im Spektrum benachbarten Infrarotstrahlen. Dieser Effekt wird genutzt, um etwa im Mikrowellenherd ein Stück Fleisch von innen her zu garen oder um mit sogenannten Diathermiegeräten Prellungen und tiefsitzende Entzündungen zu behandeln.

Das einzige Risiko schien also darin zu liegen, daß Menschen durch zu starke Bestrahlung überhitzt würden, sozusagen künstliches Fieber bekämen. Doch mittlerweile bestätigte sich auch der Verdacht, daß bestimmte Organe dafür besonders anfällig sind.

»Bei den männlichen Geschlechtsorganen«, erläutert der Wiesbadener Biophysiker Rudolf Mauser, »liegt die schädigende Strahlungsdichte mit maximal fünf Milliwatt pro Quadratzentimeter gegenüber anderen Organen am niedrigsten.« Auch nur kurzzeitige Bestrahlung kann vorübergehende Sterilität zur Folge haben.

Und besonders gefährdet, erklärt Mauser weiter, sei das Auge, weil bei Überwärmung die Hitze von dem schwachen Adernetz nicht rasch genug abgeführt werden kann: Es bildet sich ein sogenannter Katarakt -- das Eiweiß in der Augenlinse gerinnt zu weißen, undurchsichtigen Flecken.

Aufgrund des Verdachts auf Wärmeschäden hatte die US-Regierung in den fünfziger Jahren als Schutzschwelle eine Strahlungsdichte von zehn Milli-Watt pro Quadratzentimeter festgesetzt. Dieser Wert gilt -- freilich nur als Empfehlung -- bis heute, allerdings auch in der Industrie etwa für besonders strahlenexponierte Beschäftigte, die Plastikmaterial mit Mikrowellen-Heizgeräten verschweißen.

Die meisten westlichen Länder, darunter die Bundesrepublik, übernahmen den US-Standard. Er gilt beispielsweise als vorläufige Vorschrift des Verbandes Deutscher Elektrotechniker, ohne dessen Prüfzertifikat kein Mikrowellenherd und kein anderes Strahlen aussendendes Gerät auf den Markt gebracht werden darf.

In der Sowjet-Union jedoch hatten Wissenschaftler schon in der Nachkriegszeit über subtilere Wirkungen berichtet. Menschen, die auch nur sehr schwacher Mikrowellen-Strahlung über längere Zeit ausgesetzt waren, litten demnach an Schlafstörungen, Abgeschlagenheit, Gedächtnisschwäche und nachlassender Libido. Das Limit für Arbeiter in der Umgebung von Mikrowellen-Quellen wurde bei einem Tausendstel des in westlichen Ländern akzeptierten Standards gezogen.

Die Strahlen-Affäre um Amerikas Moskauer Botschaft, neuere Forschungserkenntnisse aus Tierversuchen und die vehemente Kritik von erschrockenen Bürgern wie Paul Brodeur heizten indes eine öffentliche Diskussion des Mikrowellen-Risikos in den USA an.

Den ersten Schock löste eine medizinische Untersuchung des Moskauer Botschaftspersonals aus: Etwa jeder dritte von 233 überprüften Amerikanern hatte eine erhöhte Zahl weißer Blutkörperchen; bei jedem dreißigsten war dieser Wert abnorm hoch.

Botschaftsarzt Dr. Thomas Johnson allerdings bezweifelte einen Zusammenhang mit dem hohen Strahlenpegel, den die Sowjets ohnehin als normal für Großstädte deklarierten. Andere Ursachen, meinte Johnson, hätten ebensolche Reaktionen haben können.

Doch was immer in der Moskauer Botschaft geschah -- die widersprüchlichen Gerüchte darüber waren nur der Beginn einer Serie von Panikmeldungen und beschwichtigenden Stellungnahmen.

So verlautbarte die US-Regierung, daß die höchste je in der Botschaft registrierte Strahlenstärke, gemessen nahe einem offenen Fenster, nur 18 Tausendstel Milliwatt (gleich 18 Mikrowatt) pro Quadratzentimeter betragen habe. Sie lag damit noch weit unter dem amerikanischen Sicherheitswert.

In den Vereinigten Staaten selbst dagegen, wurde alsbald bekannt, sind ahnungslose Bürger oft einer weit höheren Mikrowellen-Dosis ausgesetzt. Im st). Stock des Sears Tower in Chicago etwa, des höchsten Gebäudes der Welt, wurden 66 Mikrowatt pro Quadratzentimeter gemessen, zehn immerhin auf dem New Yorker Pan Am Building und 20 auf Straßenniveau in Las Vegas; die oberen Etagen eines Büroturms in Miami, nahe einer Sendeantenne, wurden gar mit 97 Mikrowatt pro Quadratzentimeter bestrahlt.

Schlimmer dran, sollte sich der Verdacht auf Mikrowellen-Schäden bestätigen, wären Beschäftigte in plastik-, holz- und gummiverarbeitenden Betrieben. Rund 75 Prozent der Arbeiter, die von Wissenschaftlern der US-Behörde für Arbeitsplatz-Sicherheit untersucht wurden, waren höheren als den nach westlichem Standard zulässigen Strahlenpegeln ausgesetzt.

Bedenklich, wenn auch längst noch nicht schlüssig, sind Ergebnisse von Tierexperimenten:

* Trächtige Mäuseweibchen, die in einem Labor der US-Umweltschutzbehörde wiederholt mit einer geringen Dosis bestrahlt worden waren, brachten insgesamt 3500 Junge zur Welt, von denen sieben schwere Schädel-Mißbildungen hatten -- das Gehirn lag offen. > John H. Heller, Präsident des New England Institute in Ridgefield (Connecticut), fand bei schwach bestrahlten Hamstern und Fruchtfliegen Chromosomen-Schäden. 1> Die Forschungsfirma Randomline in Huntingdon Valley (Pennsylvania) fand heraus, daß bei Ratten bestimmte Stoffe nach Bestrahlung leichter vom Blut ins Gehirn übergehen; bei Fröschen änderte sich der Herzschlag.

»Die Effekte von Mikrowellen geringer Intensität sind in der Regel reversibel«, merkte das Wissenschaftsblatt »Science« dazu an, sie verschwinden also wieder, sobald die Strahlung ausgeschaltet wird. Außerdem sei die Bedeutung solcher Tierversuche für die menschliche Gesundheit »oft unklar«.

Für Mikrowellen-Jäger wie Paul Brodeur aber sind diese Befunde Anlaß, eine »elektromagnetische Verseuchung« der Umwelt zu konstatieren. Er beschuldigt Regierung, Industrie und Militär einer Verschwörung, die Mikrowellen-Schäden vertuschen und verläßliche Forschung verhindern soll.

Immerhin wird derzeit das Personal der Moskauer Botschaft an der Johns Hopkins University in Baltimore (Maryland) genau nachuntersucht. Und selbst weitgehend unter Geheimhaltung stehende militärische Anlagen müssen nun ihre Sicherheit nachweisen.

So nimmt gegenwärtig eines der größten Radarsysteme der Welt auf Cape Cod in Massachusetts den Betrieb auf. Die 32 Meter hohe Antenne auf der Otis Air Force Base soll den gesamten Nord- und Südatlantik auf feindliche Raketen absuchen und kann noch über Europa ein Objekt von der Größe eines Autos entdecken. Wie »ich aber die Strahlung der 3600 im System »Pave Paws« gebündelten Radargeräte auf die nächste Umgebung auswirkt, wollen inzwischen sogar die Senatoren des Bundesstaates -- einer ist Edward M. Kennedy -- öffentlich erläutert wissen.

Im nächsten Jahr schließlich wird der US-Kongreß ein Hearing über Mikrowellen abhalten. Etliche Experten erwarten oder hoffen zumindest, daß dann die zulässige Strahlendosis niedriger angesetzt wird und die Sicherheitsempfehlungen Gesetz werden.

Die Bundesrepublik wird mutmaßlich indirekt einen neuen amerikanischen Standard übernehmen. Denn derzeit bereitet die Europäische Gemeinschaft, die gemeinhin keine lascheren Sicherheitsbestimmungen zuläßt als die USA. eine gemeinsame Neuregelung vor.

Paul Brodeur allerdings ist überzeugt, Ursache für solche Vorsorge habe es übergenug schon viel früher gegeben. Einer seiner Gewährsleute ist der ehemalige Radartechniker Joseph H. Towne aus North Highland in Kalifornien, der ein »Radaropfer-Netzwerk« als Hilfsorganisation strahlengeschädigter Veteranen gegründet hat.

Von 1957 bis 1966 hatte Towne an Bord von Spionageflugzeugen des Typs EC-121 Dienst getan, die elektronische Systeme des Ostblocks auskundschafteten. Dann entwickelte sich bei ihm ein Katarakt -- die Augenlinsen wurden trübe.

Towne ist sicher, daß er mit Mikrowellen verstrahlt worden ist: »Ich muß jetzt eine Brille tragen, mit der ich aussehe wie Peter Lorre in alten Horrorfilmen.«

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