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Schweine Tückischer Keim

Unter deutschen Zuchtsauen grassiert eine mysteriöse Seuche. Die Tiere erleiden Frühgeburten und werfen tote, »mumifizierte« Ferkel.
aus DER SPIEGEL 10/1991

Etwa 30 Lastwagen hatten die gewaltige Ferkelschar durch Frankreich bis an die spanische Grenze transportiert. Doch den 15 000 eingepferchten Schweinchen wurde kategorisch die Einreise verweigert. Begründung der Behörden Mitte Februar: Die Tiere seien verseucht. Trotz hektischer Interventionen des Bonner Landwirtschaftsministeriums mußte der Lkw-Troß nach Deutschland umkehren.

Zu einem ähnlichen Eklat kam es an der polnischen Grenze. Ohne Vorwarnung verweigerten die Zöllner den Import deutschen Borstenviehs. Seit vorletzter Woche darf kein deutsches Schwein mehr die Oder-Neiße-Grenze passieren.

Grund für die überhasteten Handelssperren ist eine unheimliche Krankheit, die seit etwa drei Monaten vor allem in Nordrhein-Westfalen auftritt und sich seitdem explosionsartig ausbreitet. Über 20 000 Ferkel sind der Epidemie bereits erlegen. Tierseuchenreferent Werner Zwingmann vom Landwirtschaftsministerium in Düsseldorf beklagt »gravierende Schäden« beim Schweine-Nachwuchs, viele Zuchtbauern stünden am Rande des Bankrotts.

Etwa 20 000 Landwirte leben allein in Nordrhein-Westfalen von der Ferkelzucht. Durch medizinische Präparate zur permanenten Gebärfreudigkeit gedopte Rasse-Sauen werden dabei künstlich besamt und tragen innerhalb von 115 Tagen acht bis zehn Junge aus. Der Erlös pro Ferkel (Geburtsgewicht: 1000 bis 1300 Gramm) liegt bei etwa 70 Mark.

Seit einigen Wochen jedoch gleichen viele der infrarotbeheizten Zuchtställe grausigen Kadaverstätten. Immer mehr Bauern klagen über eine ominöse Plage, die bei den trächtigen Sauen Frühgeburten auslöst. Zwischen vier und zwölf Tagen vor dem regulären Geburtstermin setzen plötzlich die Wehen ein; die Muttertiere werfen tote oder lebensunfähige Nachkommen.

Die toten Ferkel, blaß und mit pergamentartiger Haut, sind teilweise bereits in der Gebärmutter vertrocknet, die Experten nennen sie »mumifiziert«. Kaum minder erbärmlich wirken die noch lebenden Jungtiere. Sie sind untergewichtig und saugen kaum. »Spreizbeinig und kurzatmig«, so der Tübinger Virologe Volker Ohlinger, würden sie höchstens noch einige Tage herumstaksen und dann verenden.

In Nordrhein-Westfalen wütet die bösartige Infektion mittlerweile auf über 1400 Bauernhöfen, täglich kommen 40 bis 50 neue hinzu. Eine Reihe von Zuchtbetrieben sind zu 100 Prozent durchseucht. Ständig fahren Spezialtransporter durch die betroffenen Landkreise, sammeln die Kadaver ein und bringen sie zu Tierkörperverwertungsanstalten, wo sie in gewaltigen Mahlschnecken zu Viehfutter und Fetten aufbereitet werden.

Um die »dramatischen Verluste in NRW« aufzufangen (so der niedersächsische Seuchenreferent Detlev Küttler), hat sich die NRW-Landesregierung zu einer freiwilligen Beihilfe von 250 Mark pro »Verferkelung« entschlossen: »Wohl zum erstenmal in der Geschichte«, sagt Veterinärchef Zwingmann, »zahlt die Seuchenkasse Geld für eine Krankheit, die es offiziell gar nicht gibt.«

Beunruhigt sind die Experten vor allem über das Tempo, mit dem sich der Erreger ausbreitet. Von ihrem Zentrum im Westen von NRW - die ersten Fälle traten im Dezember im Kreis Coesfeld auf - schwappt die Plage mit enormem Tempo Richtung Norden.

In Niedersachsen hatte sich die Seuche letzte Woche auf insgesamt 102 Betriebe ausgedehnt. Im angrenzenden Holland stehen über 100 Schweinezüchter auf der roten Liste. Mittlerweile sind auch in Nordfriesland und in Sachsen-Anhalt die ersten »Spätaborte« aufgetreten. Für Belgien liegen »sieben Verdachtsfälle« vor.

Verdutzt ist die Fachwelt auch über die Art, wie der Ferkelkiller wirkt. Die trächtigen Sauen bleiben nach einer Infektion meist völlig symptomlos. Nur bei etwa fünf Prozent der Tiere ist das drohende Desaster zu bemerken: Sie bekommen Fieber, Atemnot und Durchblutungsstörungen. Ohren und Bauchdecke färben sich blau-rot. Nach etwa drei Wochen klingen die Symptome wieder ab.

Um der Epidemie Einhalt zu gebieten, hat die EG-Kommission letzte Woche - gegen den Widerstand der Deutschen - eine Regionalsperre verhängt: Neun Kreise in NRW, drei in Niedersachsen wurden zu Hochrisikogebieten erklärt. Treten dort irgendwo die gefürchteten Fehlgeburten auf, wird jeweils die gesamte Gemeinde für tabu erklärt. Acht Wochen lang ist in der betroffenen Region dann jeglicher Handel mit Zucht- oder Mastschweinen verboten.

Ob der EG-Beschluß die Schweinegeißel eindämmen wird, ist ungewiß. Insgesamt zehn veterinärmedizinische Institute haben sich Mitte des Monats hastig zu einem Forschungsverbund zusammengeschlossen und die Suche nach dem Abort-Keim aufgenommen. Bisher fehlt vom Erreger jede Spur.

Die ratlosen Deutschen stehen nicht allein da. In den USA dezimiert bereits seit gut zwei Jahren die gleiche Seuche die Ferkelbestände. Trotz intensiver Forschung tappen die US-Veterinäre völlig im dunkeln. Sie nennen die Erkrankung schlicht »Mysterious Pig Disease«. Vom 3. bis 5. März hat die »American Association of Swine Practitioners« zu einem Kongreß nach Minneapolis (US-Bundesstaat Minnesota) eingeladen, um das bisher spärliche Wissen auszutauschen.

Einem Expertenteam von der »Bundesforschungsanstalt für Viruserkrankungen der Tiere« in Tübingen scheinen indes erste Ansteckungsversuche gelungen zu sein: *___Verseuchtes Gewebe von toten Ferkeln wurde in Kultur ____genommen und sodann gesunden Läuferschweinen in die ____Nase gesprüht. Nach vier bis fünf Tagen bekamen die ____Tiere leichtes Fieber. *___Kot, Urin und Speichel übertragen den mysteriösen Keim ____ebenfalls. Gesunde Tiere, mit kranken in einen Koben ____gesperrt, infizierten sich. *___Auch im Stroh, auf Geräten oder den verschmutzten ____Wänden der Schweineställe kann sich der Erreger ____einnisten. ____Experimente erbrachten Hinweise, daß kontaminierte ____Ställe ohne strenge Infektionsmaßnahmen für Wochen ____verseucht bleiben.

Doch der tückische Keim muß noch andere Eintrittspforten benutzen - anders läßt sich die eruptive Seuchenwelle der letzten Wochen nicht erklären. Fast gespenstisch mutet an, was Veterinärexperte Zwingmann berichtet: »Es gibt bei uns hygienisch einwandfreie Betriebe, die seit Jahren kein Fremdvieh hinzukaufen.« Auch in solch abgeschottete Zuchtbastionen sei die Totgeburtenplage eingebrochen.

Potentielle Infektionswege, das zeigen andere Tierkrankheiten, gäbe es genug. Die Aujeszkysche Krankheit, eine oft tödlich verlaufende Herpesinfektion, kann sich mittels aerosoler Keime über die Luft ausbreiten. Die Bakterien der Viehseuche Leptospirose benutzen Ratten und Ungeziefer als Transportvehikel. Auch der Samen von Ebern kommt als Überträger in Betracht.

Werner Eichhorn, Tiermediziner an der Universität München, nennt noch eine weitere mögliche Unheilsquelle - das Futter. Vier tote Schweine wurden bisher in München seziert. Alle Tiere hatten schwere Leberschäden: »Das sah ganz so aus«, sagt Eichhorn, »als hätten die Ferkel ein Pilztoxin gefressen.«

Auch Joachim Pohlenz von der Tierärztlichen Hochschule Hannover will vergiftetes Futter als Ursache der Viehseuche nicht ausschließen: Einige der erkrankten Sauen wiesen nach der Genesung abgestorbene und zerfressene Schwanzspitzen und Ohrränder auf. »Dieser Nekroseprozeß«, sagt Pohlenz, »deutet auf toxischen Einfluß.«

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