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BESTSELLER Türkisblaue Leiden

aus DER SPIEGEL 49/1964

Eines Nachts, so erzählt die Autorin,

raschelte es hinter dem Baumwollvorhang, der das Pensionatsbett der damals 18jährigen verhüllte, und eine Stimme flüsterte: »Violette, was machst du unter der Decke? Komm und lies in meiner Koje!«

Im Nachbarbett umarmte bald danach eine langhaarige Isabelle die Mitschülerin. Violette erinnert sich: »Ihre Lippen umschlossen meine Lippen... eine aufmerksame Hand zog die Linien meiner Linien, die Kurven meiner Kurven nach.«

Vornehmlich der Freimut, mit dem die französische Schriftstellerin Violette Leduc, 57, derlei Eigenerlebnisse schildert, hat ihrer Autobiographie »La Bâtarde« (Der Bastard) in diesem Herbst auf die französische Bestseller-Liste und zu dem Prädikat »Ereignis der Saison« ("Figaro Littéraire") verholfen. Acht Wochen nach dem Erscheinen druckt der Verlag Gallimard das 60 000. Exemplar - schon eine Auflage von 10 000 gilt in Frankreich als gutes Ergebnis.

Das geballte Leserinteresse am »Schrei einer einsamen Frau« ("France soir") gilt wohl kaum nur den literarischen Qualitäten des Buches. Doch auf eben diese literarischen Vorzüge wird im Vorwort zum »Bastard« nachdrücklich hingewiesen - von Simone de Beauvoir.

Violette Leduc hatte ihr erstes Manuskript vor 18 Jahren der Sartre-Gefährtin im Existentialisten-Café Flore unterbreitet und ist seither deren Schützling. Von Jean-Paul Sartre, der einst schon den homosexuellen Dieb und Dichter Jean Genet förderte, und von der Beauvoir wurde sie mit Geld unterstützt; auf Fürbitte der Beauvoir half Gallimard der Leduc mit Vorschüssen.

Die Leduc einst zur Beauvoir: »Ich bin eine Wüste, die monologisiert.« Die Beauvoir heute: »Ich habe in der Wüste unzählige Schönheiten gefunden.«

Dabei war es hauptsächlich der Mangel an eigener Schönheit, der Violette Leduc früher zu ungehemmten Erlebnissen und jetzt zu ebenso freizügigen Bekenntnissen trieb. »Meine Häßlichkeit«, klagt die »Bastard«-Autorin, »isoliert mich bis zu meinem Tode.«

Der »Bastard« ist sie selber - uneheliche Tochter eines schwindsüchtigen Bürgersohnes, in dessen Elternhaus ihre Mutter Berthe als Haushälterin diente. Bevor die Mutter mit 20 000 Franc abgefunden wird, leben sie in großer Armut. »Der Nachttopf«, erinnert sich Violette Leduc, »verwandelte sich zur Mittagszeit in eine Salatschüssel.« Der 12jährigen macht die Mutter ein »fürchterliches Geschenk": Jeden Morgen beim Frühstück schärft sie ihrer Tochter ein, »daß alle Männer Schmutzfinken sind«. Violette: »Ich lernte es begreifen und nicht zu vergessen.«

Später heiratet die Mutter einen Möbelhändler. »Was ist ein Stiefvater?« meditiert die Autobiographin. »Ein Stiefvater ist ein künstlicher Vater. Eine Puppe, die die Augen aufmacht, die Augen zumacht, die sagt: Ich bin Papa.«

Über Mutters Heirat und Stiefvaters Lieblosigkeit tröstet sich die Pensionatsschülerin Violette zuerst mit der Bettnachbarin Isabelle, dann mit einer jungen Klavierlehrerin hinweg: »Der Haarflut von Isabelle folgten die brennenden Wangen von Hermine.« Violette bekennt, der Anblick von Hermines Schafwolljacke, ihrer Stiefelabsätze, und ihrer geraden Hüften habe sie »besessen bis zur Schlaflosigkeit« gemacht.

Lehrerin und Schülerin werden bald von der Schule verwiesen und beziehen eine gemeinsame Wohnung in Paris. Violette arbeitet gegen geringes Entgelt für den Verlag Plon, auch als Werbetexterin; Hermine gibt Stunden, führt den Haushalt, näht Kleider für die Freundin und sucht sie mit einem ockerfarbigen Spitzennachthemd zu entzücken. Violette: »Ich sollte eine Dirne werden, sie wollte eine Märtyrerin sein.«

Violette entdeckt ihren Hang zur Faulheit und zum Luxus, gibt ihre Stelle auf und stiehlt im Kaufhaus Lafayette bunte Seidentücher und Halsketten. Heute kann die Leduc sich diese Tat nur damit erklären, daß sie »die Frauen dessen berauben wollte, was sie weiblich macht«. »Neidisch sein«, schreibt sie, »das ist ein türkisblaues Leiden.« Von Hermine läßt sie sich so lange mit teuren Kleidungsstücken beschenken, bis die Freundin seufzt: »Wann wirst du endlich zufrieden sein?« Violette: »Niemals.«

Als Hermine sich außerstande sieht, auch noch einen teuren Lacktisch für Violette zu erwerben, zwingt die anspruchsvolle Gefährtin sie zu einem trilateralen Rendezvous mit einem wohlhabenden älteren Herrn. In einem mit Spiegeln ausgekleideten Appartement verbirgt Hermine schamhaft ihre Tränen, während Violette dem Champagner zuspricht: »Der Alkohol machte mich zum Faun.« Vom Honorar, das der weißhaarige Gastgeber und Zuschauer zahlt, kauft Violette anderntags den begehrten Tisch.

»Die Voyeur-Szene«, gutachtet Simone de Beauvoir im »Bastard«-Vorwort, »ist mit einer Schlichtheit geschrieben, die die Zensur entwaffnet.«

Violettes Bindung an Hermine löst sich nach neun Jahren, denn die Lehrerin folgt auf einem Schulhof den Spuren einer neuen Kollegin. In der Not greift Violette, inzwischen 32, auf ihren langjährigen Bekannten Gabriel zurück, einen etwas mickrigen und schmuddeligen Kaffeehaus-Photographen. Schmucklos bekennt die Autorin, was sie zur Heirat mit Gabriel, »meinem Bistro-Lamm«, bewogen hat: »Mein vierter Finger langweilte sich, er brauchte einen Ehering.« Und außerdem sollten die Leute nicht sagen: »Sie hat keinen gefunden, sie ist zu häßlich.«

Der Ehe ist jedoch kein rechter Erfolg beschieden, denn Gabriel eröffnet der durchaus zutraulichen Gattin sogleich, er wolle mit ihr »wie Bruder und Schwester« leben. Auch wendet er seine Neigung bald einem Kirchendiener zu.

Nun vertieft Violette ihre Beziehungen zu dem zwanzig Jahre älteren Schriftsteller Maurice Sachs, der sie in seiner Wohnung mit einem selbstgebratenen Huhn, reichlich Whisky und dem Geständnis »Ich liebe Knaben« traktiert. Violette schämt sich ihrer »weiblichen Hüften« und möchte sich für den Freund »in einen jungen Torero verwandeln«.

Während der deutschen Besatzungszeit nisten sich Violette und Sachs in einem entlegenen Bauernhaus in der Normandie ein. Dort allerdings wird Violette wieder enttäuscht. »Mein Gott«, klagt sie, »wie abwesend waren seine Küsse... Ich erhielt zuviel und nicht genug.« Um den Schriftsteller zu fesseln, erzählt sie ihm tagfüllend von ihrer traurigen Kindheit. Sachs gibt ihr schließlich den Rat, ihre Erlebnisse aufzuschreiben - gedruckt hat er sie nie gesehen: Er starb gegen Kriegsende unter ungeklärten Umständen in einem Deportiertenlager bei Hamburg.

Am Ende ihrer bis 1944 reichenden Autobiographie - ein Fortsetzungsband ist geplant - bietet sich Violette Leduc dem Leser auch noch im Klinikbett dar. Für Schwarzmarkt-Geld hat sie ihre Nase verkürzen lassen. Aber auch diesmal ist es wieder nur eine Enttäuschung: »Die neue Nase macht mich alt«, notiert sie nach der kosmetischen Operation. »Ich hatte 20 000 Franc ausgegeben, um wie ein abscheulicher Stein auszusehen.«

Fast den gesamten Erlebnisstoff, der erst ihrer Autobiographie zum Bestseller-Erfolg verhalf, hatte Violette Leduc schon früher, literarisch kaschiert, in fünf Romanen verarbeitet. Aber keiner der Romane, die von Sartre, Simone de Beauvoir, Camus und Cocteau gelobt wurden, war über eine Auflage von 1000 Exemplaren hinausgelangt - wohl auch deshalb, weil Verleger Gallimard fast alle gewagten Stellen, in einem Fall 150 Seiten, ausgemerzt hatte.

Jetzt preist der »Express« die erfolgreiche Autobiographin, die in einer dürftigen Zwei-Zimmer-Wohnung an der Bastille wohnt - Photos von Simone de Beauvoir, Sartre, Greta Garbo und Louis Armstrong sowie eine Kuckucksuhr an der Wand -, als Pionier: »Sie ist vielleicht im Augenblick die einzige Schriftstellerin, die wirklich über Geilheit, und zwar ihre eigene, schreibt.«

Das Copyright für eine deutsche »Bastard«-Ausgabe wurde bereits vom Piper-Verlag erworben.

Autobiographin Violette Leduc

»Ich bin eine Wüste«

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