Brexit-Talk bei "Anne Will" "Dann wird es finster in Europa"

Talkrunde bei Anne Will: "Der Brexit-Countdown - was bleibt von Europa?"
Foto: NDR/Wolfgang Borrs
Talkrunde bei Anne Will: "Der Brexit-Countdown - was bleibt von Europa?"
Foto: NDR/Wolfgang BorrsEs gibt einen Geheimtipp für Leute, denen es zu gut geht. Bei allgemeiner Fröhlichkeit, Zufriedenheit oder auch nur Abwesenheit existentieller Sorgen empfiehlt es sich, zur "Le Monde Diplomatique" zu greifen. Das Blatt erscheint in mehreren Sprachen, liegt in Deutschland der "taz" bei und macht selbst bei flüchtigem Überfliegen der Überschriften zuverlässig jeden vertrauensvollen Blick in die Zukunft unmöglich. So schlecht steht es also um schlechterdings alles! Einen ähnlichen Effekt hatte am Sonntag "Anne Will".
Die erste Hälfte des Themas "Der Brexit-Countdown - was bleibt von Europa" erwies sich dabei als noch verhältnismäßig sonnige Erörterung einer nachrangigen Frage. Problematisch ist in den Verhandlungen die künftige Außengrenze zwischen Nordirland und Irland, vor allem aber der britische Wunsch nach Freizügigkeit von Waren, nicht aber von Personen und Dienstleistungen.
Letzteres würde, so der ehemaliger Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) "Leuten wie Salvini in Italien" und anderen Nationalisten modellhaft "auf dem Silbertablett liefern", was sie sich wünschten. Zuvor hatte Sir Sebastian Wood, britischer Botschafter in Berlin, allen Hoffnungen auf eine Wiederholung des Referendums eine Absage erteilt.
Für Nationalismen, glaubt Wood, wäre der Brexit doch gar ein Thema. Dem widersprechen mit Vehemenz sowohl Gabriel, der das Beispiel der AfD nennt, als auch "Welt"-Korrespondent Dirk Schümer, der genau das in Italien erlebt. Dem hat der Brite so wenig entgegenzusetzen, dass er sich für den Rest der Sendung komplett abschaltet.
Gabriel unterbreitet noch den launigen Vorschlag, man könne in Großbritannien womöglich über das endgültige Ergebnis der Brexit-Verhandlungen abstimmen lassen. Er sagt aber auch, der Brexit sei nur ein Baustein, mehr "Ausdruck der Krise als die Krise selber".
Schümer stimmt zu. "Das Weggehen von England" sei "eine riesige europäische Katastrophe", sozusagen "der erste Nagel am Sarg der EU". Es sei aber die Union ohnehin "im Ganzen instabil". Sie habe so lange funktioniert, wie es sich für alle gelohnt hat". Dass das nicht mehr der Fall ist, zeige sich am Zulauf für die Populisten.
Aber was heißt schon Populisten? Personenfreizügigkeit beispielsweise werde hierzulande nur aus einer Wohlstandsperspektive betrachtet. In Rumänien dagegen, "auf dem Land, da sind die Ärzte alle weg, die sind in England". Menschen als Störenfriede zu bezeichnen, denen das Sorge bereitet, das sei eine "bourgeoise" Einstellung, "fast möchte ich sagen: eine Sklavenhaltermentalität".
Gabriel nickt, er sieht das genauso: "Zurzeit ist es eher so, dass die Wohlhabenden - wie wir - immer wohlhabender werden und die Ärmeren ärmer". Neben dem Frieden sei ein Wohlstand für alle das wichtigste Versprechen der Europäischen Union gewesen - und gebrochen worden.
Man müsse höllisch aufpassen, "dass der dicke Klotz in der Mitte", Deutschland, die Lage an den Rändern nicht noch weiter verschärfe. Und wie derzeit Berlin einen Emmanuel Macron mit seinen Vorschlägen zu einer Reform der EU "am ausgestreckten Arm verhungern lässt", zeige doch, "dass auch uns unsere nationalen Fragen wichtiger sind als Europa".
Auch Annette Dittert hat keine guten Nachrichten, sie am wenigsten. Seit zehn Jahren lebt die ARD-Journalistin in London, zuvor berichtete sie aus Warschau. Sie sagt: "Was sich in Polen abspielt", sei "bei weitem gefährlicher" für den Zusammenhalt der EU als der Brexit, mit dem man werde leben können.
Videoumfrage aus London: "Bitte Europa, denk nicht, dass Theresa May ganz England ist"
Zwar seien die Polen mehrheitlich "glühende Anhänger der EU". Allerdings schürten Jaroslaw Kaczynski und seine PiS-Partei kräftig antieuropäische Ressentiments mit dem Ziel, ein diktatorisches System vorzubereiten. Die demokratischen Strukturen seien bereits ausgehöhlt, bald folge das Land dem Beispiel von Ungarn: "Wozu braucht die EU ein Land noch, das so offensichtlich die Grundwerte missachtet?"
Dirk Schümer stimmt zu und erinnert an den Zusammenbruch des jugoslawischen Dinar. Falls Italien mit seinem neuen Kurs, "und sei es auch nur aus Schlampigkeit, weil sie zu viel fordern", den Euro zu Fall brächte, "dann wird es finster auf dem Kontinent".
Anne Will versucht diese apokalyptische Prognose noch mit einem Lächeln abzufedern. Als Schlusswort muss sie es dennoch stehen lassen.
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