
"Anne Will": Der schwierige Umgang mit der Türkei
"Anne Will" zum Umgang mit Erdogan "Europa hat die Türkei verloren"
Es muss eine schöne Zeit gewesen sein, als Günter Verheugen noch Vizepräsident der Europäischen Kommission und die Türkei an Europa orientiert war: "Ich konnte den Erdogan anrufen, als er Ministerpräsident war, und ihm sagen: 'Mein lieber Freund, das machst du besser nicht!', und dann hat der das nicht gemacht."
Heute fragt sich Verheugen: "Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Die Türkei war das Land mit der größten Transformationsdynamik!" Allerdings will Anne Will nicht wissen "Wie konnte es so weit kommen mit Erdogans Türkei?", sondern ganz akut: "Wie umgehen mit Erdogans Türkei?" und einem Präsidenten, der seine Kabinettsmitglieder in Deutschland für eine Verfassungsänderung trommeln lässt - sofern es ihnen ein beherzter Landrat oder Bürgermeister nicht untersagt.
Hier wäre Verheugens Parteifreund Heiko Maas (SPD) als Bundesjustizminister in der Pflicht. Über das Verhalten der Türkei kann er nur den Kopf schütteln. Mit Blick auf Gaggenau erklärt er: "Ich wusste gar nicht, dass mein türkischer Kollege in Deutschland ist." Den aktuellen Vorwurf, Deutschland bediene sich faschistischer Methoden, hält er für "so abstrus", dass er darauf gar nicht mehr antworten könne.
Sevim Dagdelen von der Linken geißelt die "Leisetreterei der Bundesregierung" und stellt fest: "Die kommen hierher, die benutzen die Demokratie hier in Deutschland." Die Außenpolitik dürfe man nicht Kommunalpolitikern in Frechen oder Gaggenau überlassen.
"Welche Konsequenzen sollen wir denn ziehen?", will Maas wissen: "Sagen Sie mal eine Konsequenz, die Sie ziehen wollen?" Erst als Will die Frage wiederholt, konkretisiert Dagdelen: "Ich würde das wie die Niederländer und die Österreicher machen." Maas: "Was machen die denn?" Nun, die zahlten keine Vorbeitrittshilfen mehr an die Türkei und erteilten Wahlkampfverbote, zählt Dagdelen auf.
Eine solche Symbolpolitik, kontert Maas, würde ein Ende der diplomatischen Beziehungen bedeuten. Dem inhaftierten "Welt"-Journalisten Deniz Yücel sei nicht zu helfen, "wenn wir mit Vertretern der Türkei gar nicht mehr reden würden". Maas spricht für die Regierung, wenn er darauf pocht, sich nicht provozieren lassen zu wollen. Ein Einreiseverbot sei "genau das, was Erdogan jetzt will", und dann würde alles nur noch schlimmer. Dagegen wären unsere heutigen Probleme "Sandkastenspiele".
Zeichen des Protests
Eine ähnliche Haltung vertritt auch Armin Laschet von der CDU in Nordrhein-Westfalen: "Wenn Kommunalpolitiker eine Möglichkeit finden, eine solche Veranstaltung zu verhindern, begrüße ich das!" Darüber hinaus fordert er ein wenig wohlfeil, die gesamte Zivilgesellschaft möge "ihren Protest markieren, ohne das große Schwert zu nutzen, die Diplomatie aufs Spiel zu setzen".
Als Zeichen des Protests seitens der Redaktion selbst ist es zu werten, dass mit Ilkay Yücel die Schwester von Deniz Yücel aus Istanbul zugeschaltet wird. Zwar hat die besorgte Frau nicht viel zu sagen, kennt auch nur die veröffentlichten Kassiber ihres Bruders und wartet auf die Möglichkeit eines Besuchs im Gefängnis. Ihr dennoch überhaupt das Wort zu erteilen, zeugt allerdings von einer solidarischen Sympathie, die von Teilen der deutschen Presse von "SZ" bis "FAZ" offenbar nicht mehr selbstverständlich ist.
Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der "Cumhuriyet", ebenfalls verfolgt und derzeit im deutschen Exil, betont: "Deutschland darf sich in seinen Verhaltensweisen nicht der Türkei annähern. Der Staat darf nicht darüber entscheiden, wer das Rederecht hat. Wenn man darüber eine Diskussion beginnt, nimmt das kein Ende mehr." Denn Erdogan sei "ein Politiker, der ein Interesse daran hegt, den Hass zu steigern. Damit arbeitet er."
Auch Verheugen erinnert: "Es ist nicht Präsident Erdogan, der Mitglied der Europäischen Union werden will, sondern ein großes und mächtiges Volk." Es habe auch niemand "etwas dagegen, dass italienische Parteien bei uns Wahlkampf machen". Ihn stört die Verlogenheit einer europäischen Politik, die dem großen und mächtigen Volk seit 60 Jahren eine Mitgliedschaft in der EU in Aussicht gestellt habe.
Eine "verwegene These"
In Ankara habe sich die Stimmung 2005 geändert, als in "wichtigen europäischen Ländern" neue Regierungen an die Macht gekommen seien - so in Deutschland Angela Merkel, die der Türkei nur eine "privilegierte Partnerschaft" anbieten wollte. Seitdem ging Erdogan wohl nicht mehr ans Telefon, wenn Verheugen anrief.
Laschet hält das pflichtschuldig für ein "verwegene These", aber Verheugen sieht hier einen "kausalen Zusammenhang". Auch Dündar pflichtet bei: "Europa hat die Türkei verloren, und die Türkei hat ihre europäische Perspektive verloren."
Der Journalist räumt ein, dass Yücel so wenig wie seine rund 150 Kollegen oder andere Betroffene in der Türkei einen fairen Prozess erwarten könne. Allerdings gebe es "noch eine andere Türkei", die gegen das Referendum stimmen werde.
Solidarität sei wichtig und hilfreich, so Dündar. Aber die einzige Lösung zur Verbesserung der Lage liege in der Türkei selbst. Sie müsse "aus eigenem Willen, aus eigener Kraft zur Demokratie zurückfinden".