"Anne Will" zu Coronavirus Eine Stunde Grillenzirpen

Noch mal alles zu Händewaschen, Hausarzt-Hickhack und Fußballspielverboten: Anne Wills Runde zum Coronavirus war bekannter Servicejournalismus. Dabei hätte man die 60 Minuten sinnvoller nutzen können.
Anne Will (M.) mit Gästen: Die Flughöhe der Sendung war schon nach ein paar Minuten klar

Anne Will (M.) mit Gästen: Die Flughöhe der Sendung war schon nach ein paar Minuten klar

Foto: Dietmar Gust/ NDR

Vielleicht, so der Gedanke, würde sie es sich ja noch anders überlegen. Aber egal, wann man am Wochenende auf die Sendungsseite von "Anne Will" schaute, um das geplante Thema zu überprüfen: Corona. Nicht Lesbos.  

Gut, der Sonntags-"Presseclub" hatte sich dessen schon angenommen, "Hart aber fair" am Montagabend will auch. Und in Italien waren nun binnen 24 Stunden 133 Erkrankte gestorben. Drum also: "Quarantäne, Hamsterkäufe, abgesagte Veranstaltungen - wie berechtigt ist die Angst vor dem Coronavirus?"

Man wollte der Redaktion zurufen: Das Toilettenpapier ist doch schon leergekauft. Und die Nudeln. Ja, bis auf die Vollkornsorten. 60 kostbare Minuten in allerbester Sendezeit - wieso nicht nutzen für wirklich Drängendes, Existenzielles, Leben-und-Tod? Auf Lesbos brannte am Samstagabend ein Flüchtlingszentrum. Seit Wochen gibt es unerträgliche Regelverstöße gegen die Genfer Menschenrechtskonvention und EU-Menschenrechtscharta  an der türkisch-griechischen Grenze. Aber nun.

Die Flughöhe der Sendung war schon nach ein paar Minuten klar. Zum Einstieg erzählte ein "Starbariton", zugeschaltet von seinem Sofa im Brandenburger Kleinmachnow, wie es denn so ist, in Quarantäne zu sein. Haben wir ja alles noch nie gehört in den vergangenen Wochen. "Wie geht es Ihnen jetzt?", fragt Anne Will also. "Wunderbar, eigentlich", sagt er, "aber wir wissen nicht, was kommt, das ist kein gutes Gefühl." Die Premiere der Oper an der Mailänder Scala: abgesagt. Nach zehn Minuten - zehn! - übers inzwischen gähnend bekannte Hotline-Hausarzt-Hickhack, dann: "Wissen Sie, ob Sie infiziert sind?", fragt Will. "Ja", sagt der Bariton, "bin ich nicht."

Die Dauerfrage, ob "die Medien" dazu beitragen, dass "die Menschen" panisch werden, ließ sich am Beispiel dieser Sendung jedenfalls sehr leicht beantworten. Wohl eher nicht.

Da kamen also eine Infektiologin (Susanne Herold), ein Wissenschaftsjournalist (Ranga Yogeshwar), ein Arbeits- und Gesundheitsminister (aus NRW: CDU-Mann Karl-Josef Laumann), eine Neuköllner Hausärztin (Sibylle Katzenstein) und der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (Marcel Fratzscher) zusammen.

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Der Erkenntnisgewinn nach 30 Minuten: Stellen Sie sich hier zartes Grillenzirpen vor!

Alles nur das Feinste aus der Fachabteilung Erwartbarstes: von "Ja, Fußballspiele erst mal alle absagen" (alle, ausführlichst, es fehlten nur die Tippspiele), "Geht nicht in die Arztpraxen!" (Laumann) bis "Es geht aktuell nur darum, die Ansteckungszeit zu strecken, das ist kein Aktionismus" (Yogeshwar). Und von Wirtschaftsmann Fratzscher natürlich: "Wirtschaftlich wird das die deutsche Wirtschaft treffen", "Die Arbeitslosigkeit in Deutschland wird steigen", und: "Bitte Investitionsprogramme!"

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Der Rest rangierte im Bereich: Wissen wir noch nicht (Sterblichkeitsrate/ Warum läuft's bei Kindern so harmlos? / Wie lang dauert's noch? / Ergebnisse des tagenden Koalitionsausschusses). Um kurz vor Schluss noch mal was zu Händewaschen und Händeschütteln zu sagen.

Mit Verlaub, für Servicejournalismus ist eine Stunde TV-Talkrunde wie diese wirklich ein absurd vergeudetes Format. Weil. Das. Ja. Alles. Schon. Überall. Erklärt. Wurde. Die Buchstaben stehen da gemütlich rum, kann man in Ruhe lesen, noch mal hochscrollen, sogar ausdrucken!  

An dem Punkt half aber auch die großartig phrasenfreie Berliner Hausärztin Katzenstein aus: "Wir reden über die falschen Dinge", sagte sie. "Unsere Gesellschaft ist zu individualistisch, es geht nicht um Fußballspiele, sondern um den Schutz der vulnerablen Leute, der Alten und Kranken. Italien macht es uns vor, Japan, die Schweiz."

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Da wir gerade über Solidarität sprechen: Die Angst vor Ansteckung ist übrigens ein Klassiker in der Überfremdungsangst-Rhetorik. Jüngst in Form der rassistischen Bedrohungen gegenüber allen, die asiatisch aussehen, gängig im Nationalsozialismus und zu Zeiten des Kolonialismus. Ein probates Mittel von damals taucht nun in Berichten über Italiens Virusbekämpfung immer wieder auf: Der "cordon sanitaire", einst errichtet von den Weißen rund um die Dörfer in den Kolonien. Als Schutz vor "Fremdkörpern". Die Gewalt gegen Flüchtende auf Lesbos, sie ist eine Variante davon.

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