
Doku "Hunger": Butter, Salz und Dreck
ARD-Doku über Hunger Rosen raus, Lebensmittel rein
Im Hintergrund ragt der Kilimandscharo in den Himmel. Der schneebedeckte Gipfel verheißt Wasser in Hülle und Fülle, doch leider rauscht es an den Massai in den Ebenen vorbei. Der Fluss, den der Berg einst speiste, ist fast versiegt. Nun zieht das Wasser in unterirdischen Pipelines direkt in Richtung Nairobi und zu einer riesigen, vor der Stadt gelegenen Rosenfarm dahin. 135.000 Blumen werden hier täglich für die Märkte in Europa geschnitten, jede braucht fünf Liter zum Heranwachsen.
Für die Massai ist da kein Wasser mehr übrig. Valentins- und Muttertage in der Ersten Welt lassen die floristische Wirtschaft mit ihrem hohen Feuchtigkeitsbedarf auf Hochtouren laufen. Die Regierung verkauft also die Wasserressourcen, um die Exportindustrie anzukurbeln. Zapfen die Massai in den trockengelegten Zonen vor dem Kilimandscharo selbst die Leitungen an, werden dafür auch sie zur Kasse gebeten. Obwohl in den einst blühenden Landschaften Kenias beheimatet, bleibt ihnen nur noch die Hoffnung auf Hilfsmittel aus dem Ausland. Ein zweifelhaftes Wirtschaftsmodell ist das: Rosen raus, Uno-Lebensmittel rein.
Fünf Regionen in unterschiedlichen Ecken der Welt haben Marcus Vetter ("Das Herz von Jenin") und Karin Steinberger, sonst Reporterin für die "Süddeutsche Zeitung", besucht. Ihr 90-Minüter "Hunger" ist eines der journalistischen Highlights der ARD-Themenwoche "Leben ist Ernährung" und belegt auf eindrückliche Weise, dass Hunger oftmals nur die Folge kurzsichtiger Ressourcenneuverteilung ist.
So wie im westafrikanischen Mauretanien etwa, wo die Filmemacher ihre Recherche beginnen. Dort hat die Regierung den Fangflotten aus der EU für 86 Millionen Euro die Lizenz zum Fischen in den artenreichen Gewässern vor der Küste verdealt - mit der Folge, dass den heimischen Kleinfischern kaum noch etwas in die Netze geht. Jetzt verkaufen viele ihre Boote an Menschenschmuggler, die mit ihren kaum hochseetüchtigen Jollen die Hungernden über einen mehrtägigen Trip nach Europa bringen. Oder im aufgewühlten Meer kentern und sterben.
Kaum plakative Katastrophenbilder
In Indien indes besuchen die Reporter Reis- und Baumwollbauern, die mit genmanipuliertem Saatgut zu kämpfen haben. Wo es früher zum Beispiel "Flutsamen" oder "Dürresamen" gab, dominiert auf den Reisfeldern jetzt ein einheitlicher Hybridsamen, der weniger witterungsresistent als der einheimische ist und auch weniger oft ausgesät werden kann. Mit "Gen-Banken", in denen sie traditionelle Sorten zu bewahren versuchen, gehen immerhin die Reisbauern gegen die Monokultur der multinationalen Saatguthersteller vor. Die Baumwollbauern hingegen sind inzwischen komplett abhängig von ihnen - erst verschulden sie sich zum Erwerb des teuren Hybridsamens, dann vertrocknet ihnen das empfindliche Edelprodukt auf ihren Feldern.
Sehr detailliert führt "Hunger" in die verschiedenen industriellen Aspekte des globalen Ernährungskollapses ein - und verzichtet dabei weitgehend auf die plakativen Katastrophenbilder, die das Publikum bei einschlägigen Fernsehgalas spendabel stimmen sollen, oder auf polemische Verkürzungen.
Lediglich beim Exkurs in Brasilien wird zweifelhaft zugespitzt. Hier beleuchten die Filmemacher die Abholzung des Regenwalds um den Amazonas: Erst schlagen die Holzfirmen Schneisen in den Wald, dann kommen die Rinderfarmer, schließlich riesige Sojaplantagen. Eine aggressive landwirtschaftliche Umstrukturierung, der die Kleinbauern der Gegend zum Opfer fallen. In fußballstadiongroßen Hallen lagern Millionen Tonnen von Sojasprossen, die auf ihren Export nach Europa warten und die nur durch den Regenwald-Raubbau geerntet werden konnten: der Alptraum eines jeden umweltbewussten Vegetariers.
Die Hunger-Reportage zeigt die Wildwestmethoden, mit der hier im new frontier land am Amazonas die großen Rinder- und Soja-Barone die Kleinbauern verdrängen - fährt aber auch mit der einen oder anderen nicht verifizierten Horrormeldung auf. So lassen sie eine kämpferische Seelsorgerin von der neuen Versklavung der Landbevölkerung erzählen, die mit vorgehaltenem Gewehr zur Plantagenarbeit gezwungen und bei Fluchtversuchen erschossen werde. Eine neue Generation der Leibeigenen in Luiz da Silvas Arbeiterwunderland? Die These erscheint glaubhaft, wird aber leider nicht mit Beweismaterial untermauert.
Überlebenskampf in Port-au-Prince
Am Ende schließlich besuchen die Reporter den vielleicht drastischsten Fall einer Globalisierungsruine: Haiti. Nachdem der Agrarstaat der internationalen Freihandelszone beigetreten war, fielen die Preise für Rohstoffe so stark, dass es inzwischen billiger ist, diese zu importieren als einheimische zu kaufen. Die Bauern verloren ihre Existenzgrundlage.
Der Film zeichnet nun den Kampf ums Überleben in den Elendsquartieren von Port-au-Prince nach, in welche die hungernde Landbevölkerung geflüchtet ist - und erhält noch einmal besondere Dringlichkeit durch die aktuelle Meldung, dass sich die Cholera auf Haiti ausbreitet und am Wochenende auch die Hauptstadt erreicht hat. Die Impressionen aus dem Slum Cité Soleil, in dem 200.000 Menschen auf zehn Quadratkilometern vegetieren, können da nur pessimistisch stimmen: Dreckige, mit Plastikmüll übersäte Bäche dienen hier gleichermaßen zur Müllentsorgung wie zur Wasserversorgung.
So gesehen stellt die düstere Doku-Rundreise eine wichtige Ergänzung zu all den Wohlfühlaktionen der ARD-Themenwoche dar - zum Beispiel zu den feschen Tim-Mälzer-Kocheinlagen (Dienstag, 19.20 Uhr), den etwas gewollten Fernsehfilm-Verwurstungen zum Thema (etwa in "Fasten à la Carte", Mittwoch, 20.15 Uhr) oder der fröhlichen Pädagogik mit Ranga Yogeshwar und seiner Show "Wie ernährt sich Deutschland" (Donnerstag, 20.15 Uhr).
Und wie ernährt sich nun Haiti? Die Doku "Hunger" stellt auch eines der wichtigsten "Nahrungsmittel" vor, das am Rand der inzwischen Cholera-bedrohten Rinnsale der Cité Soleil hergestellt wird. Es ist der sogenannte Schlammkeks: ein Fladen aus Butter, Salz - und dreckiger Erde.
"Hunger", Montag, 22.45 Uhr, ARD