ARD-Serie "Oktoberfest 1900" Bier her, Bier her, oder I fall um, fallera

Mišel Matičević als Großbauer Curt Prank: Bierburg für 6000 Gäste
Foto:Dusan Martincek / ARD
Als eine Ersatzdroge eigener Art wird die Sache sowieso funktionieren: Heuer, wie der Bayer sagt, findet das Oktoberfest Corona-bedingt nicht statt. Einige Millionen Liter Bier werden nicht ausgeschenkt, viele Promis werden sich nicht mit ihren Tracht-Experimenten blamieren, unzählige Alkoholvergiftungen bleiben aus. Und das ist natürlich nur eine kleine Auswahl der düsteren Aspekte des Treibens auf der Münchner Wiesn, das sich binnen 210 Jahren zum größten, wohl auch bekanntesten Volksfest der beinahe zivilisierten Menschheit entwickelt hat.
Betrugsversuch beim Ausschank, sexuelle Übergriffe, Schlägereien sonst eher friedlicher Leute gehören unbedingt dazu - und die zuletzt aufgezählten, vornehmlich männlichen Vergnügungen bilden so auch das dramaturgische Skelett der sechsteiligen Serie, in der nicht nur viel Gerstensaft, sondern auch viel Blut vergossen wird. Sie ist nicht heiter. Aber eindrucksvoll.

Raserei und Genuß
Das liegt weniger am Drehbuch, das ziemlich vorhersehbar funktioniert. In finsterer Entschlossenheit werden hier zwei Familien gegeneinander getrieben, die stur in den Verhaltensweisen ihrer Milieus verhaftet sind: Der Nürnberger Großbrauer und skrupellose Geschäftsmann Curt Prank, der auf der Wiesn eine "Bierburg" für 6000 Gäste errichten will, zwanzig Mal so groß wie die üblichen Bierbuden auf dem Oktoberfest, und der seine Tochter in die höheren Kreise zu verheiraten beabsichtigt. Und die katholisch-kleinbürgerliche Familie Deibel, deren Brauerei im kapitalistischen wie korrupten Verdrängungskampf unterzugehen droht.
Hier wird gemordet, dort gebetet, hier wird bestochen und dort am Ende das Messer gezückt. Zudem finden, als wär's ein Stück von Shakespeare, die Kinder der verfeindeten Familien in Liebe zueinander, und so nimmt das Drama seinen geregelten Verlauf.
"Echte Kannibalen aus Deutsch-Samoa"
Andererseits: Um diesen Romeo-und-Julia-Plot herum entwickelt der Regisseur Hannu Salonen, der einige Stellbrink-"Tatorte" mit Devid Striesow für den Saarländischen Rundfunk produziert hat, ein komplexes und faszinierend abstoßendes Gesellschaftspanorama der bayrischen Hauptstadt um die vorletzte Jahrhundertwende. Die Boheme- und Künstlergruppe im Schwabinger "Wahnmoching" - starring: Thomas Mann und Franziska zu Reventlow - hat exzessiv schwüle Auftritte, die herrschaftliche Münchner Oberschicht dreht sich in ihren überdekorierten Villen spätfeudal um sich selbst, das Proletariat schwitzt und leidet wie gemalt. Sogar die kolonialistische Liebe zum horriblen Naturmenschen hat ihren historisch korrekten Auftritt: Auf dem "Oktoberfest 1900" werden "echte Kannibalen aus Deutsch-Samoa" vorgeführt - und natürlich erst mal für eine der diversen Untaten im Wiesn-Kampf verantwortlich gemacht.
Die Geschichte spielt sich in erheblichem Tempo ab. Kurze Szenen, harte Schnitte sorgen für eine vorwärtsdrängende Atmosphäre, die exzellente Kamera (Felix Cramer) überrascht mit ambitionierten Perspektiven, die Musik (Michael Klaukien) durch Stilreichtum und Ironie - wie der Untermalung einer Wahnmochinger Orgie mit einer Variation des psychodelischen Beatles-Hit "Lucy in the Sky with Diamonds". Vor allem Licht und Soundtrack überführen das Drama immer wieder in traum- und märchenhafte Sequenzen, machen die Künstlichkeit, als wär's ein Caravaggio, zur Kunst und die Raserei zum Genuss.
Und schließlich sorgt das exzellente Ensemble dafür, dass das schauerliche Spektakel beklemmend bleibt bis zum Schluss: Mišel Matičević und Martina Gedeck als Antipoden geradezu antikischer Gewalt, die jungen Liebenden Mercedes Müller und Klaus Steinbacher als facettenreiche Verkörperungen adoleszenten Eigensinns; Maximilian Brückner als lasterhafter Intrigant, die überragende Brigitte Hobmeier als gequälte Heldin aus dem Proletariat - durchweg, bis in die Nebenrollen hinein, ist das Schauspiel intensiv und subtil zugleich.
Die Körper und ihre Schmerzen und Leidenschaften regieren, vom entzündeten Zahn bis zur entfesselten Libido, von der Selbstzucht der versteiften Bürger bis zur Hinterzimmerparty ihrer queeren Kinder: ein hitzig inszeniertes Fest des kühlen Blicks auf Vorfahren, die man sich vom Leibe halten will.
Die sechs Folgen von "Oktoberfest 1900" sind ab 15. September im Ersten zu sehen und stehen bereits jetzt in der ARD-Mediathek.
Netflix hat die internationalen Rechte erworben und wird die Serie ab dem 1. Oktober unter dem Titel "Oktoberfest - Beer & Blood" weltweit in neun Sprachen auswerten.