Wahlabend im TV Speeddating mit ARD und ZDF

Ob im Zweiten, bei RTL oder »Bild«-TV: Überall wurden möglichen Koalitionspartnern heftige Avancen gemacht. Selbst die »Berliner Runde« wirkte zwischenzeitlich wie eine entfesselte Kontaktbörse.
Annalena Baerbock und Olaf Scholz in der »Berliner Runde«: Die Kontaktbörse der deutschen Politik?

Annalena Baerbock und Olaf Scholz in der »Berliner Runde«: Die Kontaktbörse der deutschen Politik?

Foto: MICHELE TANTUSSI / POOL / EPA

Dieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.

Ja, sind wir hier denn bei »Bauer sucht Frau«? Welchen Fernsehsender man ab 18 Uhr auch einschaltet, überall wird gekuppelt, scharwenzelt und charmiert. Früher wurde an Wahlabenden auch schon mal die eine oder andere zarte Avance an potenzielle Koalitionspartner und -partnerinnen gemacht, doch so heftig waren die Flirts nach Schließung der Wahllokale noch nie.

Die Wucht, mit der all das Werben und Anbahnen an diesem Sonntag ausgeführt wird, hat auch damit zu tun, dass sich Deutschlands TV-Landschaft in den vergangenen Monaten drastisch verändert hat. Zu ARD und ZDF sind jetzt RTL, Sat.1 oder »Bild«-TV in der Politikberichterstattung dazugestoßen . Mehr Kanäle, mehr Kontaktbörsen? Es ist schon erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit Politikerinnen und Politiker am Sonntag von Studio zu Studio eilen, um Fragen über den gewünschten politischen Beziehungsstand zu beantworten.

Wer geht mit wem?

Ungewohnt galant an diesem Abend: Union und SPD. Besonders umworben: FDP und Grüne. Wer geht mit wem? Wer bleibt allein zurück? 

Christian Lindner wohl nicht. Im ZDF, die erste Hochrechnung ist gerade raus, gibt der FDP-Spitzenkandidat im Interview mit der stellvertretenden Chefredakteurin Bettina Schausten den kapriziösen Koalitionsmacher, der noch mal darauf verweist, wie zurückgesetzt er sich 2017 bei den Gesprächen zu einer möglichen Jamaikakoalition gefühlt hat. Er zwinkert aber auch in Richtung Schwarz, Grün, ja vielleicht sogar Rot: »Wenn Gutes bewirkt werden kann, kann man die Regierungsbildung nicht den anderen überlassen.« Sehr geheimnisvoll, so macht man sich attraktiv.

Schausten versucht es konkreter: 40 Prozent der FDP-Anhängerschaft, so die Journalistin, hielten einer Umfrage zufolge eine Partnerschaft mit der SPD für »zumutbar«. So geht »Na, wie wär’ es mit euch beiden?« im öffentlich-rechtlichen Jargon

Auch der Politikchef von RTL versucht sich als Postillon d’amour: Nikolaus Blome hat die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt im Studio, die mit der Koketterie der Umworbenen stöhnt: »Auf einmal wollen alle Klimaschutz.« Aber Blome weist darauf hin, dass die Grünen ja selbst Werbende sein müssen, wenn sie in eine Regierung wollen, und fragt: »Wäre es im Wahlkampf nicht ein bisschen besser gewesen, wenn Sie netter zur FDP gewesen wären?«

Wie sexy ist eine Jamaikakoalition?

Richtig nett zur politischen Konkurrenz ist auf einmal Markus Söder bei »Bild«-TV: Fünf Minuten, bevor er bei der »Berliner Runde« auftritt, nimmt er sich auf Drängen eines »Bild«-Reporters noch Zeit, einen kleinen Blumenstrauß in Richtung Grüne zu werfen und erklärt die »ökologische Verantwortung« zur ersten Pflicht einer zukünftigen Regierung. Claus Strunz, der immer viel zu wuschig auf Sendung gehende »Bild«-TV-Programmdirektor, schwärmt daraufhin von der »Sexyness« einer Jamaikakoalition, die durch Zusage der Grünen an Union und FDP möglich sei.

Aber auch bei der »Berliner Runde«, dem Kernstück des Wahlfernsehabends, das trotz aller Verschiebungen auf dem Markt weiter in den Händen von ARD und ZDF ist, werden mögliche Partnerschaften ausgelotet – allerdings weniger erotisch hochgejazzt. Moderiert wird der Talk von Rainald Becker, Ex-ARD-Chefredakteur und nun Bundeswahlkoordinator der Anstalt, sowie Peter Frey, seit 2010 Chefredakteur beim ZDF. Die beiden sind alte öffentlich-rechtliche Schule – und doch ebenfalls auf ihre Weise hingerissenen von den besonderen Paarungsmöglichkeiten durch den Wahlausgang.

»Berliner Runde«: Wer geht mit wem? Wer bleibt allein zurück?

»Berliner Runde«: Wer geht mit wem? Wer bleibt allein zurück?

Foto: MICHELE TANTUSSI / POOL / EPA

Becker zu Lindner: »Sie haben ein bisschen dazugewonnen und gelten als Königsmacher.« So früh will sich der FDP-Mann aber auch in dieser Sendung nicht über seine Wunschkoalition äußern, er protzt erst mal mit all den verschiedenen Koalitionen seiner Partei auf Landesebenen und die vielen Farbkombinationen dabei, mit denen sie daherkommen. Was für eine mögliche Regierungsbeteiligung auf Bundesebene wohl heißt: für alles offen – aber nicht leicht zu haben.

Denn gleich im nächsten Satz sagt Lindner: »Wir wenden uns gegen Verbote und für eine Offenheit der Technologie.« Dabei schaut er betont cool in Richtung der Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock; wahrscheinlich um klarzustellen, dass das bei ihm bei einem Zusammenkommen eher ein harter Tango als ein weicher Walzer wird. Aber er fügt auch hinzu: »Es könnte sein, dass FDP und Grüne zuerst miteinander sprechen.«

Süßholz von Laschet

Ja, wer ruft denn jetzt wen an? Das alte Dating-Problem – das Baerbock aber nicht zu stören scheint. Denn sie sagt im Anschluss schnell, wie sehr sie sich darüber freut, dass jetzt wenigstens die Zeit vorbei sei, wo alle ängstlich auf den Anruf des Wahlgewinners warten. Moderator Frey: »Und das erste Gespräch findet ja auch jetzt schon in dieser Runde statt.« Speeddating à la ARD und ZDF.

Da will auch Laschet mitmachen: »Was Frau Baerbock gesagt hat, finde ich sehr hilfreich.« Ganz der Galan: Darf ich’s wagen, den Grünen mein Geleit anzutragen? Wie schnell sich doch Zuneigungen verschieben.

Erst am Donnerstag fand in fast identischer Aufstellung im gleichen geöffneten Rund die Schlussrunde zur Wahl statt, da standen alle soldatisch zu ihren ehernen Koalitionsansagen und -absagen. Vier Tage später löst sich da nun einiges auf. Was auch an den guten Nachfragen von Becker und Frey liegt. Von allen Moderatoren und Moderatorinnen der großen Wahl-Talks sind sie am souveränsten. Die beiden sind 61 und 64 Jahre alt, die Rente ist nah. Sie fragen, wie sie immer gefragt haben, ihnen fehlt die Nervosität, die viele Kolleginnen und Kollegen offenbar angesichts der neuen Konkurrenz des Privatfernsehens befällt.

Stoisch, aber effizient kitzeln die beiden sowohl die Beziehungswünsche als auch die Beziehungsprobleme der Anwesenden heraus. Frey fragt CSU-Chef Söder, ob er nicht auch persönlich Anteil trage am Unions-Debakel. Ja, ja, alles nicht so gut verlaufen diesmal, aber: »Armin, wir haben in den letzten Tagen richtig Tempo gemacht!« Dann Blick nach rechts zu Armin, der da bedröppelt nickt.

Söder schiebt hinterher: »Es gibt ein Bedürfnis nach Veränderung.« Hat er jetzt natürlich nicht mit Blick auf den Armin gesagt, sondern mit Blick auf Scholz, der angeblich die notwendigen Schritte allenfalls – komisches Wort – »notariell« angehen würde, aber nicht die wirkliche Kraft für eine solche Veränderung hätte. Frey hakt nach, ob Söder denn die Kraft hätte, nach Berlin zu gehen, sprich: ein Ministeramt anzunehmen. Doch der will lieber als CSU-Vorsitzender aus Bayern den Takt angeben. Schmunzel-schmunzel Richtung Laschet: »Ich glaube, historisch gesehen bin ich ein freundlicher CSU-Vorsitzender, was das Verhältnis zur CDU angeht.« Symptomatisch, dass jede Aufmunterung an Armin aus dem Mund von Markus wie eine Drohung klingt. Keine glückliche Beziehung, für diese Diagnose muss man kein Therapeut sein.

Söder flirtet dann auch schon wieder schamlos in andere Richtung und probiert’s an Baerbock gewandt noch mal mit der ökologischen Umarmung: Bayern habe ja die meisten Elektroladepunkte in Deutschland, für 2040 habe er seinem Bundesland Klimaneutralität verordnet. Ui-ui-ui, da muss doch was gehen.

Aber die angezwinkerte Baerbock ist noch immer auf Lindner fixiert und versucht, den Schuldenbremse-versus-Investitionen-Konflikt aufzulösen, bei dem sie sich mit dem FDP-Mann beim letzten Schlagabtausch vor vier Tagen verhakt hatte. Jetzt will sie einfach die Schuldenbremse durch eine Investitionsschraube ergänzen. Weil: »Es geht ja nicht um die Mittel, sondern um das Ziel.« Nun tauscht doch endlich Nummern aus.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten