Bundestagswahl im TV Erst Glotze, dann Urne
Endlich auf Augenhöhe: Geht es nach den Programmgewaltigen des deutschen Fernsehens, wird die große Kluft zwischen "denen da oben" und "uns hier unten" bei der diesjährigen Berichterstattung zur Bundestagswahl zumindest gefühlsmäßig eingeebnet.
Dafür sollen vor allem die kommunikationstechnischen Segnungen des Internetzeitalters sorgen. Wenn es einen medialen Trend gibt in diesem Superwahljahr, dann den zur interaktiven Bürgersprechstunde.
Ab nächster Woche werden Spitzenpolitiker aller Parteien in der "Sat.1-Arena" von der ehemaligen ARD-Moderatorin Sabine Christiansen und dem ehemaligen SPIEGEL-Chefredakteur Stefan Aust befragt. Die Zuschauer sollen direkt mit Telefon, E-Mail, SMS oder Webcam in die laufende Diskussion einklinken. Hyper-Talk muss man sowas wohl nennen; der Moderator agiert hier nicht mehr nur als Politiker-Dompteur, sondern gleich auch noch als Hightech-Jongleur.
Das auf fünf Ausgaben angelegte Format ist also eine höchst riskante Angelegenheit - die doch strenger medienstrategischer Überlegung geschuldet ist. Schließlich geht es auch darum, zumindest temporär die Talk-Hoheit der ARD am Sonntagabend durch "Anne Will" ins Wanken zu bringen. Bei Sat.1 weigert man sich zwar, von Kampfprogrammierung zu sprechen; dass man sich bei 168 Stunden pro Woche ausgerechnet die eine am späteren Sonntagabend ausgesucht hat, straft solche Beschwichtigungsversuche allerdings Lügen.
Bei aller aufklärerischen Attitüde geht es beim deutschen Wahlfernsehen also mehr denn je um kommerzielles Kalkül. Um Quoten und Zuschauersegmente, um journalistischen Hoheitsanspruch und marktstrategische Neupositionierung.
Milde Obamaisierung
Neu dabei ist, wie stark sich die Privaten in diesem Verteilerkampf engagieren. Vielleicht ist es die milde Obamaisierung des deutschen Wahlkampfs, die RTL und Sat.1 in die Quotenschlacht treibt. Dabei zeigte sich bislang, dass hierzulande Politik wohl doch nicht zum Pop taugt. Da helfen auch keine herbeizitierten Anglizismen oder Abstecher ins Internet: Quotentechnisch sind bislang fast alle TV-Events des Superwahljahrs 2009 wenig erfolgreich.
So zum Beispiel Ende Mai die ARD-Europawahlsendung "Jetzt reden wir" , eine 90-minütige Mixtur aus Volksfest und Polit-Meckerkasten. Trotz populärer Aufmachung und Primetime-Sendeplatz schauten sich den Rustikal-Talk nicht mal eine Millionen Menschen (Marktanteil: 3,5 Prozent) an. 1,55 Millionen (5,9 Prozent Marktanteil) schalteten die RTL- und SPIEGEL-TV-Bürgersprechstunde mit Angela Merkel ein, in der sie sich Sorgen und Nöte von Arbeitslosen und Bankenkrisenopfern anhörte. Die Talkrunde bei Anne Will zum politischen Ladenhöker Praxisgebühr wollten zur gleichen Zeit doppelt so viele sehen.
An diesem Sonntag nun tritt Frank-Walter Steinmeier in der Gemeinschaftssendung von RTL und SPIEGEL TV auf, die nach amerikanischer "Townhall Meetings"-Manier gestaltet ist. Egal wie lange die Coaches für sein erstes ganz großes Wahlkampf-Solo mit Steinmeier gearbeitet haben, den Obama-Touch wird wohl auch er nicht in die Sendung bringen.
Dabei hält das Format ja enorme Chancen parat - wie 2005 Steinmeiers Vorgänger Gerhard Schröder bewies. Der hatte damals die ARD-Fragestunde (dieses Jahr laufen sie im Ersten zeitnah zur Wahl unter dem Titel "Wahlarena", siehe Kasten) in eine Gerd-Show verwandelt. Beobachter machten damals Schröders Talk-Alleingang, bei dem er patent und detailfreudig auf Fragen reagierte, mit verantwortlich dafür, dass sich die SPD in den letzten Tagen vor der Wahl aus dem totalen Stimmungstief bugsierte.
Leicht nachvollziehbar also, weshalb die Wahlkampfstrategen um jede Minute bei den Sendern ringen - und die Sender ihrerseits um jede verfügbare Minute der Spitzenkandidaten. Wer geht wann wie lange wohin? Diese Frage entscheidet ja inzwischen über Fernsehquoten genauso wie über Wahlergebnisse, zumindest aus Sicht der Planer.
Vier Sender, ein Duell
Bei der aufreibenden Austarierung dieses wechselseitigen Nutznießerverhältnisses verfallen alle Beteiligten zuweilen in Hysterie oder Erschöpfung. Bezeichnend ist dabei, wie lange man gebraucht hat, um endlich einen Termin und eine Moderatorenbesetzung zum großen TV-Duell zwischen Steinmeier und Merkel zu bestätigen - auch wenn laut ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender diesmal alles sehr "angenehm und konstruktiv" abgelaufen sei. Befragt werden sie nun, wie erst vor wenigen Tagen bekannt wurde, am 13. September von vier Moderatoren der vier großen Sender, die das Ereignis dann parallel ausstrahlen.
2005 verfolgten sensationelle 21 Millionen Menschen die Redeschlacht der Kanzlerkandidaten. Das TV-Duell stellt damit das einzige Ereignis dar, das den hochsegmentierten deutschen Fernsehmarkt alle vier Jahre für 90 Minuten in eine Art Gleichklang bringt.
Dass man dieses Jahr noch panischer als zuvor um den Proporz ringt und dabei auch noch die neuen Medien einzubinden versucht, mag eben dem Nachhall der Obama-Euphorie geschuldet sein. Doch seien wir ehrlich: So wenig, wie Merkel und Steinmeier zu Popstars taugen, wird der deutsche Wahlkampf im Internet gewonnen. Natürlich ist es ehrenwert, dass das ZDF junge Menschen in einer Kooperation mit der Internetplattform YouTube zur Wahl abholt, indem es in der gemeinsamen Aktion "Open Reichstag" Kontakt zu Erstwählern aufzubauen versucht. Der ganz erhebliche Teil des Wahlkampfs aber wird, anders als bei der letzten US-Präsidentenwahl, in der Glotze ausgetragen.
Das hübsche Denglisch in der Formulierung "Open Reichstag" macht trotzdem deutlich, wie die klassischen Medien mit den neuen kokettieren; wie man herkömmliches Verhörfernsehen zum interaktiven Wunderformat hochjazzt. Insgesamt kommt das deutsche TV so verheißungsvoll wie unübersichtlich daher; der harte Faktencheck liegt manchmal dicht beim Hardcore-Fun. Manchmal ist beides auch eins.
Ein bisschen Amerika spielen
Meister dieser interdisziplinären Form, früher Edutainment genannt, ist inzwischen Stefan Raab. Der wird mit einer langen "TV total"-Nacht in den 27. September führen. Bereits 2005 hatte Raab das ungeschriebene öffentlich-rechtliche Gesetz des Spaßverbots für Politiker direkt vor der Wahl gebrochen und zur großen Vorwahlparty geladen. Auch diesmal soll die Stimmung der jungen Leute ausgetestet werden, während Parteigrößen ihre Unterhalterqualitäten unter Beweis stellen und ein bisschen Amerika spielen. Mit seiner spaßigen Wahlprognose lag Raab übrigens gar nicht so daneben: Sein "TV total"-Stimmungsbarometer sagte damals eine große Koalition voraus.
Die Kids sind bei ProSieben also auch ganz ohne Internet alright. Dass das dieses Jahr wieder so ist, dafür hat man sich im Verbund mit den Schwestersendern Sat.1, Kabel 1 und N24 etwas ausgedacht: In einer Reihe von Spots unter dem Motto "Ich gehe wählen" treten Prominente und Sendergesichter an, von Stefan Raab über Sonya Krauss bis "Richter" Alexander Hold, um Erstwähler an die Wahlurne zu treiben.
Eine Aktion, die wie die Faust aufs Auge zum Wahl-TV 2009 passt, wo man munter alle journalistischen Präsentationsformen verrührt: Da wird die demokratische Geste doch glatt zur Crosspromotion.