Corona-Talk bei »Anne Will«
Haseloff singt Halleluja
Hoffnung auf schnelle Durchimpfung oder Bummelzug in die Herdenimmunität? Bei einer extra anberaumten »Anne Will«-Sendung wurde über die Pandemiebekämpfung diskutiert.
Anne Will mit Gästen: »Wenn sie ein Tröpfchen Impfstoff hätten, würde ich ihn nehmen«
Foto: NDR/Wolfgang Borrs
Das neue Talkshowjahr beginnt, wie das alte Talkshowjahr aufhörte. Bei der letzten Ausgabe von Sandra Maischberger vor Weihnachten saß die Virologin Melanie Brinkmann und forderte: »Wir müssen dem Virus eins auf den Deckel geben.« Bei der ersten Sendung von Anne Will nach Neujahr forderte sie nun: »Wir müssen noch mal richtig draufhauen.« Genau ein Monat liegt zwischen den beiden doch sehr ähnlich klingenden Schlachtrufen. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Sehr viel. Zu wenig. Je nach Sichtweise.
Die Virologin Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum in Braunschweig zweifelt, dass die noch einmal verschärften Lockdown-Regeln allein greifen werden. Auf Wills Frage diesbezüglich seufzt sie erst einmal schwer, um dann noch einmal aufzuzählen, was die Menschen an Eigeninitiative auf die verordneten Beschränkungen drauflegen sollten, um die Pandemie einzudämmen, vom Homeschooling ohne jede Ausnahme bis zum Mobilitätsverzicht für fast alle. Der Landesvater Reiner Haseloff aus Sachsen-Anhalt will angesichts der angeschobenen Maßnahmen aber lieber jubilieren: »Wir können das neue Jahr mit einem Halleluja beginnen!«
Die völlig unerwartete Aufforderung zum Lobgesang Haseloffs kam nach dem Impfvergleich zwischen Israel und Deutschland, der in der Sendung angestellt wurde. In Israel sind bereits 20 Prozent der Bevölkerung geimpft, hierzulande haben indes nur 0,6 Prozent den, wie es das »Anne Will«-Team in einem Einspieler nennt, »schützenden Piks« bekommen. Haseloffs Erklärung: Anders als in Israel geht es in Deutschland nicht ohne rechtlich verbindliches Beratungsgespräch, hier könne man nicht eben mal durch den Drive-in zur Spritze fahren.
Aber ist der vergleichsweise langsame Anlauf der Pandemiebekämpfung tatsächlich vorrangig ein Problem des deutschen Rechtsstaats?
In den USA, wo sehr viel mehr Vakzine eingekauft wurden, soll in einer konzertierten Aktion mit dem Titel »Operation Warp Speed« die schnellstmögliche Impfstoffverteilung geregelt werden; in Großbritannien will man in der »Operation Moonshot« flächendeckend Menschen ohne Symptome im Schnellverfahren Corona-Tests machen lassen. Warp-Geschwindigkeit bei der Impfstoffverteilung, Raketenstart mit Schnelltests – dagegen geht es hierzulande mit dem Bummelzug in die Herdenimmunität.
Schuld daran, so wurde im Verlauf der frühzeitig aus der Winterpause zurückgekehrten Talkshow von Will herausgearbeitet, sind vor allem zwei zusammenwirkende Faktoren: die anfängliche Zögerlichkeit der EU beim Vakzine-Einkauf sowie die schwierig einzuordnende Corona-Mutante aus Großbritannien.
Auf dem Niveau eines Entwicklungslandes
Forscherin Brinkmann sagt gleich zu Anfang, man habe hierzulande wenig Handhabe, virologisch sei bei der Virusvariante »noch vieles offen«. Ein Kollege von ihr war da in der Kritik sehr viel deutlicher. Hartmut Hengel, Leiter der Virologie der Universität Freiburg, sagte der »Tagesschau« unlängst: »Wir sind in Deutschland, was die molekulare Überwachung des Coronavirus angeht, wirklich miserabel.« Man sequenziere hier auf dem Niveau eines Entwicklungslandes.
Das markige Zitat wurde noch einmal in die Diskussionsrunde geschoben – und sorgte für Unruhe: Wenn in Deutschland, wie zurzeit in Großbritannien, die Hälfte aller Infektionen auf die Mutation zurückgingen, würde man das Aufgrund der mangelnden Labormöglichkeiten wahrscheinlich gar nicht bemerken. Eine Folge europäischer Wissenschaftsstrukturen: Bei der Sequenzierung liegen Großbritannien und Dänemark vorn, andere Länder sind von ihnen abhängig.
Als europäisches Problem sieht es die ebenfalls bei »Anne Will« geladene Manuela Schwesig auch, dass Deutschland im Verbund mit anderen so zögerlich bei der Bestellung der Impfstoffe gewesen sei. Sie verweist auf das SPIEGEL-Interview mit den beiden Biontech-Gründern Özlem Türeci and Uğur Şahin, in dem diese sich verwundert darüber zeigten, dass EU-Verhandlungspartner anfänglich so wenig Interesse an ihrem Impfstoff an den Tag legten. Schwesig: »Es kann nicht sein, dass die EU da feilscht.«
Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes, erscheint diese Verurteilung zu pauschal; auch er läutet wie Haseloff eher zum Lobgesang in Sachen Pandemiebekämpfung: »Hier muss man sagen, wo die Glocken hängen: Biontech und Pfizer haben anfänglich viermal so viel gefordert wie jetzt letztendlich bezahlt werden.« Das wäre nach seinen Berechnungen auf rund sieben Milliarden Euro hinausgelaufen. Aber wäre das, fragen andere in der Runde, tatsächlich so untragbar in Anbetracht der unendlich viel höheren Kosten, die nun durch die Verlängerung der Coronakrise entstehen? Allein 2020 sollen sich die Corona-bedingten Ausgaben von Bund und Ländern schon auf 1,3 Billionen Euro belaufen haben.
Diese Rechnung kann auch Montgomery nicht ganz von der Hand weisen. Aufgrund der Verzögerung muss er jetzt ja auch selbst auf die Impfung warten. Ironisch bettelt er am Ende die Runde an: »Wenn sie ein Tröpfchen Impfstoff hätten, würde ich ihn nehmen.«