"Dark" und das deutsche Fernsehen: Verwirrt in die Zukunft
Dieser Beitrag wurde am 03.07.2020 auf bento.de veröffentlicht.
Spoiler-Warnstufe orange
Wir verraten hier etwas über die Serie oder den Film. Nicht das komplette Ende. Nicht die Mörder-Überraschung. Falls du dich aber ärgerst, wenn wir hier gleich Ereignisse vorwegnehmen: Lieber erst anschauen und dann hierher zurückkommen.
Glaubt man Filmen über Zeitreisen, sind solche Trips eine gefährliche und komplizierte Angelegenheit. Jeder unbedachte Schritt, jeder Atemzug in der Vergangenheit könnte die Zukunft verändern, aus der man kommt. Oder nicht?
In der ersten deutschen Netflix-Serie "Dark", die kürzlich mit ihrer dritten Staffel zum geplanten Ende kam, sieht die Prämisse etwas anders aus: Denn alle Handlungen, auch die, die wir noch nicht vollführt haben, müssen bedingt durch die Möglichkeit der Zeitreisen bereits passiert sein.
Denn (aufgepasst): Wenn ich morgen ins Gestern reise, muss das, was ich gestern tue, heute schon passiert sein. Meine Zukunft beeinflusst meine Vergangenheit, diese die Gegenwart und diese die Zukunft. Man dreht sich im Kreis und kommt nicht mehr raus. Freier Wille? Bloß eine Illusion.
Wie gesagt: kompliziert.
Dass "Dark" in Staffel drei zur Grundidee der verschiedenen Zeitstränge noch mit Parallelwelten aufwartet, macht es nicht einfacher, das gedankliche Konstrukt zu entknoten. Jantje Friese und Baran bo Odar, die sich die Handlung ausgedacht haben, sehen die Komplexität als Spiel und Herausforderung, die man meistern müsse. Es gehe ihnen darum, "das Instrument des Überkomplizierten zu nutzen, um dem Zuschauer zu sagen: 'Hey, entweder du commitest dich hier total und bist die ganze Zeit da, sonst kriegst du eh nichts mit – oder du schaltest ab'", sagte Friese im Interview mit der ZEIT.
Den Zuschauer bewusst fordern, ja sogar überfordern, über viele Stunden hinweg? Ein mutiger Schritt. Während "Dark" anfangs noch im Gewand eines Sci-Fi-Familiendramas daherkam, offenbarte sich die Serie immer mehr als Vorlesung über Determinismus und die wissenschaftsphilosophischen Grundgedanken der Quantenverschränkung. Uff.
Oder, um es überspitzt mit Deutschlands Twitter-Papst "El Hotzo" zu sagen:
Kann sein, dass "Dark" Gymnasiasten anspricht. Sprüche à la "Wer Dark versteht, kann durch Null teilen" sind auch daher zum Running Gag auf Twitter geworden. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Fans der Serie einfach Menschen sind, die zur Abwechslung mal von einer hierzulande produzierten Serie ernstgenommen werden wollen.
International wird die Serie gerade wegen ihrer Komplexität gefeiert. Bereits vor dem Start der dritten Staffel wählten Nutzer der Metakritik-Seite "Rotten Tomatoes" sie zur besten Netflix-Produktion aller Zeiten. Vor "Black Mirror" und "House of Cards". Dass auf einmal die ganze Welt auf eine deutsche Produktion schaut, überrascht, wenn man als Deutscher mit der Erzählqualität unserer selbstgemachten TV-Welt zwischen GZSZ, Gebirgsschmonzetten und Sonntagskrimis sozialisiert wurde. Inhalte, die selbst nach Ausflügen aufs Klo oder jahrelangen Unterbrechungen keine Anschlussprobleme erzeugen.
"Dark" wollte aber niemals zugänglich sein, sondern Anreiz für Diskussionen, Mutmaßungen und Theorien bieten. Und nebenbei hat die Serie auch stilistisch, beim Bild- und Sounddesign, ja sogar beim Casting neue Maßstäbe gesetzt.
Vom Intro, das niemand überspringen mag, über den handverlesenen Soundtrack, der mit jeder Episode die Handlung verstärkende Ohrwürmer und Montagen präsentierte. Von der faszinierenden Ähnlichkeit der verschiedenen Schauspielerinnen und Schauspieler, die denselben Charakter zu verschiedenen Zeiten spielen, und der Wohltat, nicht die ewig gleichen Fernsehgesichter zu sehen. Geniale Kamerakniffe wie das spiegelverkehrte Aufnehmen der Parallelwelt bemerkt dann nur noch, wer auf so etwas achtet – allen anderen bleibt es als unterbewusste Gefühl hängen, dass hier alles bekannt und trotzdem anders ist.
Leider erreicht die finale Staffel den Drive und die Faszination der ersten beiden nicht mehr ganz. Dafür verliert sie sich doch zu sehr in Repetition und bedeutungsschweren Blicken und Zitaten ihrer Figuren. Dennoch: Der Abschluss sorgt, nach dem Kampf durch den zähflüssigen Zeitreise-und-Philosophie-Morast, für große Erleichterung und Befriedigung.
Insbesondere die letzte Episode ist ein optisches wie erzählerisches Meisterwerk und entlohnt Zuschauerinnen und Zuschauer mit einem "Interstellar"-Moment fürs Durchhalten. Eine gute Erfahrung nach den Enttäuschungen anderer Serienfinale wie etwa "Game of Thrones" und Lost.
Kritiken und Social-Media-Posts aus der ganzen Welt loben nun die "würdige Konkurrenz für Christopher Nolan" und erfreuen sich an der "bahnbrechenden TV-Erfahrung" und den "faszinierenden Paradoxa". Die erste Staffel bekam 2018 bereits den Grimme-Preis, das Gesamtwerk dürfte nach Abschluss sicher noch mehr Auszeichnungen einheimsen.
Die Zukunft des Fernsehens?
Dieser weltweite Applaus ist auch ein Signal an die in Deutschland regional zerklüfteten Filmförderungen und TV-Sender, insbesondere die Öffentlich-Rechtlichen. Sie entscheiden maßgeblich darüber, welche Film- und Serienprojekte umgesetzt werden. In der Vergangenheit haben sie dabei nur wenige konkurrenzfähige Film- und Serienexporte produziert. Die stattdessen entstandenen Formate werden durch die Innovationskraft der Streamingdienste nun offen deklassiert und im besten Fall zur Erneuerung gezwungen.
Dark-Hauptdarsteller Louis Hofmann im Interview:
Anders als für viele Charaktere in "Dark" ist der Pfad in die Zukunft für die deutsche Unterhaltungsindustrie noch nicht verbaut. Die Serie beweist, was hierzulande möglich ist, welche Expertise und welch filmisches Handwerk man hier zur Verfügung hat.
Das ist etwas, worüber man sich freuen darf. Selbst, wenn man die Serie nicht bis zur letzten Gedankenumdrehung verstanden hat. Das geht ohnehin allen anderen genauso.