TV-Film nach Daniel Kehlmann Wo ist die Bombe?

Sophie von Kessel und Charly Hübner: Verbaler Schlagabtausch
Foto:Sandra Hoever / ZDF
Nach 28 Minuten fällt erstmals der Name von Frantz Fanon. »Mit tz«, wundert sich Thomas, der Kommissar, »was soll das denn?«. Namentlich tritt später auch noch Sartre auf. Auf Sokrates, Descartes und Nietzsche wird immerhin angespielt. Schließlich ist Judith, die Thomas an Heiligabend in einem anonymen Hotelzimmer ins Verhör nimmt, Philosophieprofessorin von Beruf – und möglicherweise Terroristin aus Leidenschaft. Womit die Diskurs- und Fallhöhe von »Das Verhör in der Nacht« beschrieben wäre.
Die Denker verraten nicht nur, was Daniel Kehlmann, der Autor der Vorlage des Fernsehfilms, beim Schreiben so gelesen haben mag. Sie deuten auch den theoretischen Überbau dessen ab, was in Kehlmanns Theaterstück (»Heilig Abend«) verhandelt und hier von Matti Geschonneck fürs Fernsehen inszeniert wird. Ist Gewalt als Möglichkeit und Ausdruck von Protest gegen einen Staat legitim? Oder, wie es nach 39 Minuten heißt: »Wo ist die Bombe?«
Und gibt es überhaupt eine Bombe? Thomas (Charly Hübner) bleiben genau 90 Minuten, diese Fragen zu klären. Ursprünglich ist das Szenario ein klassischer Wettlauf mit der Zeit, fürs Fernsehen bleibt die Uhr aus dem Spiel. Wir erfahren nur, dass der revolutionär veranlagte Ex-Mann von Judith (Sophie von Kessel) ebenfalls verhört wird. Und dass um Mitternacht die Bombe, so es sie den gibt, hochgehen wird.
Seinen Reiz bezieht das Kammerspiel aber weniger aus der Spannung, mehr aus dem Duell zweier starker Charaktere. Denn die Professorin und der Polizist ringen um die Wahrheit, das Recht, die Gerechtigkeit und die intellektuelle Hoheit im Raum. Judith verweist auf »die Unterdrückten dieser Erde«, Thomas antwortet, schon klar, die Banken seien alle kriminell und die Politiker käuflich: »Mir wäre auch lieber, die Güter wären besser verteilt. Erstens an mich, zweitens an alle anderen«.

Sophie von Kessel als Judith: Rätselhaft und schlagfertig
Foto: Sandra Hoever / ZDFBeide Kontrahenten machen sich zumindest auf dieser Ebene nichts vor. Sophie von Kessel hat schon am Theater die Judith gespielt, eine rätselhafte, schlagfertige und über weite Strecken doch defensive Person. Charly Hübner als Thomas hingegen legt das ganze Gewicht der Staatsgewalt in seine Rolle, schwankt zwischen Schmeichelei und Bedrohlichkeit. Für einen kurzen Moment sind die beiden Figuren sogar Mann und Frau, nicht mehr Bulle und Professorin. So tut es dann mehr weh, wenn der Flirtversuch scheitert.
»Heilig Abend« ist zwar keines der gegenwärtig so populären Courtroom Dramas, bei denen nach erfolgter Verhandlung das Urteil über eine ethische Frage gesprochen wird. Der Machtkampf spielt sich in den Gesichtern ab, die Darsteller bewegen sich in dezenter Choreografie umeinander, und eine vergleichbar elegante Spannungsmusik – an der Grenze zur Unhörbarkeit – hört man im Fernsehen nur selten. Sie dient einem Diskursstück, dem man das Papierne bisweilen anmerkt – etwa, wenn Judith (»Armut ist gemacht«) wahllos Kenntnisse über den Abbau von Uran im Niger ausbreitet, die wirken wie (von Kehlmann) fix ergoogelt. An der Triftigkeit ihrer Analyse ändert das nichts.
Wenn etwas konstruiert wirkt am Stelldichein im elegant abgedunkelten Zimmer, dann der Linksterrorismus der Akademikerin. Thomas selbst meint, er schlüge sich gegenwärtig eher mit Glaubenskriegern herum (Replik von Judith: »Dschihadisten sind der große Vorwand, in Wahrheit stützen sie das System, das sie zu bekämpfen glauben«) und gesteht: »Als wir auf sie gestoßen sind, da mussten wir sogar lachen! ›Gibt’s denn sowas heute auch noch?‹, hat mich ein Kollege gefragt!«
Eine gute Frage. In einer Zeit zumal, in der bei der Bundeswehr massenhaft Munition »abhanden« kommt, immer wieder Polizistinnen und Polizisten ihren faschistoiden Fantasien in Chats freien Lauf lassen und tödliche Gewalt tendenziell nicht von linksextremer Seite ausgeht. Da erscheint die dramaturgische Option einer aktualisierten RAF eher weit hergeholt. Ungefähr von 1976.
Der Grund liegt auf der Hand und ist dramaturgisch begründet, zumal das Stück keine Partei ergreift. Ein verbaler Schlagabtausch zwischen revolutionärer Gewalt und staatlicher Gewalt setzt auf beiden Seiten so etwas wie eine moralische Legitimation voraus. Eine Wiedergängerin von Ulrike Meinhof kann Kehlmann sich mühelos vorstellen, eine rhetorisch und theoretisch ebenbürtige Beate Zschäpe nicht. Über eine solche Figur würde der Polizist gewiss nicht »sogar lachen« müssen. In ihr könnte er sich womöglich sogar selbst erkennen, was in diesem Verhör ganz andere Dynamiken in Gang gesetzt und wirklich neue Erkenntnisse gefördert hätte.
So bleibt es bei der klassischen Konfrontation zwischen dem fundamentalistischen Impuls (»Manchmal ist es besser, etwas Falsches zu tun, als nichts zu tun!«) und dem verantwortungsethisch motivierten Versuch, das offensichtlich Falsche (die Bombe) zu verhindern, selbst zum Preis, das womöglich strukturell Falsche (das System) zu bewahren.
Kurioserweise wirkt »Das Verhör in die Nacht« damit, als hätte es sich beim ZDF in der Tür geirrt. In der ARD-Themenwoche »Wie wollen wir leben?« wäre es ein Glanzstück gewesen.
»Das Verhör in der Nacht«, Freitag, 20.15 Uhr, Arte und Montag, 20.15 Uhr, ZDF. Schon jetzt in den Mediatheken