

Europa wächst zusammen. Wenn auch nicht so, wie die Politiker in Brüssel sich das wünschen: Exakt auf der Mitte der Öresund-Brücke, die Dänemark mit Schweden verbindet, liegen zwei Objekte, für die sich die Polizei auf beiden Seite des Bauwerks interessiert. Auf der schwedischen Seite der Demarkationslinie befindet sich der Oberkörper einer Politikerin aus dem Malmöer Stadtrat, auf der dänischen der Unterkörper einer Kopenhagener Prostituierten. Sie sind so angeordnet, dass man sie für Teile ein und derselben Leiche halten könnte.
So wie hier die Körperhälften zweier ganz unterschiedlicher Frauen zusammenkommen, so finden durch das Verbrechen zwei Ermittler zueinander, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Die schwedische Polizistin Saga Norén (Sofia Helin) weist autistische Züge auf; soziale Notwendigkeiten sind ihr fremd, mit dem distanzierten Blick einer Forscherin schaut sie auf alles Zwischenmenschliche. Nettsein? Dem anderen Brötchen mitbringen? Vor dem Geschlechtsverkehr ein Kennenlerngespräch führen? Für Norén vollkommen abwegig.
Der dänische Ermittler Martin Rohde (Kim Bodnia) kümmert sich umso aufmerksamer um seine Mitmenschen. Besonders um die weiblichen. Fünf Kinder von drei Frauen hat der sympathische Polizist. Gerade ließ er sich sterilisieren, deshalb rennt er, während er den Kolleginnen immer wieder frische Brötchen serviert, mit schmerzenden Hoden durch den Fall. Es kommen im Laufe der Ermittlungen, beim Witwentrösten und bei Verfolgungsjagden, noch weitere Zumutungen auf sein Geschlechtsteil hinzu.
Der Mörder als moralische Instanz
Und die schmerzhaften Ermittlungen, bitter für Rohde, ziehen sich. Denn das fast zehnstündige dänisch-schwedische Krimi-Epos "Die Brücke", das ab Sonntag vom ZDF in fünf Teilen ausgestrahlt wird, führt in die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Regionen von Kopenhagen und Malmö - vom alten schwedischen Immobilien-Adel in die Obdachlosenszene des Landes, von zynischen Medienmachern in Malmö zu wütenden Migrantenkindern in Kopenhagen. Ein Mörder mit Mission will mit seinen Taten auf Missstände aufmerksam machen, "Wahrheits-Terrorist" wird er bald von den Menschen genannt. Da stellt sich die Frage: Wie weit kann es mit einer Gesellschaft hersein, die Kriminelle als moralische Instanz braucht?
Das Erstaunliche: Kein einziges Mal droht das Thriller-Panorama "Die Brücke" unter seinem philosophischen Überbau zusammenzubrechen. Eine der Regisseurinnen dieses Krimi-Kolosses, Charlotte Sieling, hat zuvor auch schon einige Teile des Kopenhagener Krimi-Epos "Kommissarin Lund" verfilmt, das bei seiner Erstausstrahlung im dänischen Fernsehen eine Quote einfuhr wie bei uns die Übertragung eines Fußballweltmeisterschaft-Finales.
Neidisch, ARD? Wird bei uns ein TV-Glanzstück wie Dominik Grafs "Im Angesicht des Verbrechens" im Spätprogramm verklappt, feiert man in Skandinavien ähnliche Projekte als echte Ereignisse. Ob man "Kommissarin Lund", das Bodyguard-Epos "Protectors" oder den kürzlich auf Arte ausgestrahlten Polit-Krimi "Gefährliche Seilschaften" nimmt, scheinbar mühelos stemmen die Dänen ambitionierte Mehrteiler - und machen damit sogar noch Traumquote. Das Geheimnis des Erfolges: der lange Atem, der bei der Durchsetzung eines derart teuren Projektes notwendig ist, der lange Atem, um eine solch komplexe Geschichte zu Ende zu erzählen.
Lieber einen Horror-Fall als eine Horror-Pubertät
Dieses organische Organisieren und Inszenieren zeigt bei "Die Brücke" Spuren bis in die kleinsten Sequenzen. Die Story atmet, pocht, schlägt geschmeidig Haken. Nachtschwarz ist das Szenario, teilweise erinnern die grobporigen Bilder an neuere Thriller von Michael Mann, etwa an "Collateral". Der Serientäter-Plot mag bizarr anmuten, doch bis in den letzten Winkel ist das Szenario von Alltag erfüllt, von menschlichen Bedürfnissen und Nöten. Die Helden und Antihelden werden beim Liebemachen genauso selbstverständlich gezeigt wie beim Essenmachen.
So tauchen wir zum Beispiel ab in den chaotischen Privatkosmos von Kommissar Rohde, bei dem gerade der schwer pubertierende Sohn aus einer früheren Beziehung ins neue Familienglück samt drei kleiner Kinder eingezogen ist. Der Polizist schiebt seinen zusehends lädierteren Körper durch die unaufgeräumte Wohnung, während ihn der irre 15-jährige Facebook-Fan mit Weisheiten über die Mordserie traktiert, die im Internet ihre Kreise zieht: der Horror-Fall als Fluchtmöglichkeit vor dem Horror Pubertät, der zu Hause auf Rohde wartet.
Wir tauchen aber auch ab in die rätselhafte Welt des Sozialarbeiters Stefan Lindberg (großartig: Magnus Krepper, der schwedische Gast-Darsteller aus dem letzten Borowski-"Tatort"), einem breitschultrigen Kerl mit Biker-Schnauzer, der sich von allen Alkis und Assis Malmös wie Dreck behandeln lässt, bis er irgendwann einem Aggressor eins mit dem Bügeleisen überzieht. Was treibt den Mann? Gerne sehen wir ihm ein paar Stunden zu, bevor uns eine Ahnung beschleicht. Auch wenn das vielleicht gar nicht die richtige ist.
Was der Oberkörper der Honoratiorin mit dem Unterkörper der Hure zu tun hat, das interessiert einen da schon fast nicht mehr. "Die Brücke" ist großes Erzählfernsehen, es erschafft einen kranken Parallelkosmos - ein europäisches Alptraumland irgendwo zwischen Kopenhagen und Malmö.
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