Zum Start von Disney+ Die Selbstverwurstung eines Weltkonzerns

Am Dienstag geht auch in Deutschland Disney+ an den Start. Dabei zeigt sich ein Problem, das den Micky-Maus-Konzern schon lange plagt: Wo sind die neuen, wirklich originellen Stoffe?
Disney+ bietet jede Menge Nostalgie - viel Neues ist nicht dabei

Disney+ bietet jede Menge Nostalgie - viel Neues ist nicht dabei

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Disney

Noch vor wenigen Tagen schien es, als sei der amerikanische Unterhaltungskonzern mit dem offiziellen Namen The Walt Disney Company ein Koloss, der niemals wanken könnte.

Seine Filmsparte deklassierte die Konkurrenz im vergangenen Jahr mit einem Rekord-Einspielergebnis von 11 Milliarden Dollar, "Avengers: Endgame" wurde zum erfolgreichsten Film aller Zeiten, und die neue Streamingplattform Disney+ zählt nach dem US-Start im vergangenen November heute schon mehr als 28 Millionen Abonnenten - nicht zuletzt, weil sich zahlreiche Amerikaner in den kleinen Baby Yoda aus der "Star Wars"-Serie "The Mandalorian" verliebten, mit der Disney+ dort an den Start ging.

Die "Star Wars"-Serie "The Mandalorian" soll auch in Deutschland die Fans zu Disney+ lotsen

Die "Star Wars"-Serie "The Mandalorian" soll auch in Deutschland die Fans zu Disney+ lotsen

Foto: Disney+

Neuen Pop-Moment kreiert, neue Fans an Land gezogen, hohe Nachfrage ausgelöst - es schien nur eine Frage der Zeit, bis Disney auch im Streamingmarkt durchregieren würde.

Das war natürlich schon immer eine übertrieben optimistische Einschätzung. In Wahrheit nimmt sich Disneys Abonnentenzahl im Vergleich mit der des Platzhirschen Netflix (167 Millionen) noch sehr überschaubar aus. Aber in den wenigen Tagen, in denen es das Coronavirus geschafft hat, die Welt in einen Zustand zu versetzen, den wir aus Katastrophenfilmen kennen, hat sich die Lage von Disney in einem erschütternden Ausmaß verschlechtert.

Themenparks mussten schließen, Kreuzfahrtschiffe liegen vor Anker, Filmstarts sind verschoben: Anfang der Woche rauschte Disneys Börsenkurs bedenklich in den Keller. Sogleich mutmaßte ein Wall-Street-Analyst  im Branchenblatt "Hollywood Reporter", Disney sei nunmehr leichtes Futter für noch größere Fische wie Apple. Unterhaltungs-Kapitalismus brutal. Und das wenige Tage vor dem Start von Disney+ in Deutschland und anderen europäischen Ländern.

Immerhin wird die Plattform anders als Kinos und Broadway-Theater auch in Corona-Zeiten zugänglich sein. 24 Stunden am Tag hat ab kommenden Dienstag ein virtuelles Disneyland geöffnet, mit Klassikern aus acht Jahrzehnten und neuen, exklusiv für den Dienst produzierten Filmen und Serien. Originals, wie man heute so sagt.

Wobei - viel Originelles hat Disney ausgerechnet an aktuellem Streaming-Stoff nicht zu bieten. In Zeiten eines Medienumbruchs mit dramatischen Folgen geht der Konzern zwar endlich distributionstechnisch mit der Zeit und vollzieht mit Disney+ den viel zu lange verschlafenen Schritt in die neue Welt. Das ist wirtschaftlich sinnvoll und wird sich ganz sicher finanziell auszahlen.

Künstlerisch aber klammert sich das Maus-Haus an eine vermeintlich goldene Vergangenheit, die es immer wieder aufs Neue durch den Neuverfilmungswolf dreht. Seit Jahren geht das in der Filmsparte schon so: Beinahe alle Kassenhits der jüngeren Vergangenheit, von "Die Schöne und das Biest" bis zu "Aladdin", sind Neuverfilmungen von Zeichentrick-Klassikern mit Schauspielern und Computereffekten, so genannte Live-Action-Remakes. Das Publikum will es ja, wie die phänomenalen Einspielergebnisse beweisen. Also immer weiter so. Ein Konzern verwurstet sich selbst.

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Überhaupt: Den endgültigen Aufstieg zur beherrschenden Entertainment-Weltmacht schaffte Disney nicht etwa durch unbändige kreative Energie, sondern durch das äußerst geschickte Taktieren des kürzlich aus dem aktiven Dienst geschiedenen CEO Bob Iger, der gleich nach seinem Amtsantritt 2005 zu einer grandiosen Einkaufstour aufbrach. 2006 übernahm Disney unter seiner Führung Pixar, 2009 Marvel, 2012 Lucasfilm, 2019 schließlich auch noch das ganze Fox-Filmstudio. Neue Inhalte sichern, indem man Talente einfach kauft, das ist aktuell die Strategie vieler Streamingdienste. Disney hat das schon viel früher vorgemacht.

Der eingekaufte wirtschaftliche und künstlerische Erfolg übertüncht seitdem die Schwäche des Mutterhauses, wenn es darum geht, selbst ein Publikum zu verzaubern. Manchmal scheint es, als habe es sich noch immer nicht vom Untergang des klassischen Zeichentrickfilms und dem Aufstieg der Computeranimation ab Ende der Neunzigerjahre erholt. Schmerzhaft deutlich wird das beim Blick auf die vermeintlichen Originale von Disney+, bei denen es sich in großen Teilen um Wiederverfilmungen, Fortsetzungen oder Serien-Ableger von Kinostoffen handelt.

Das Flaggschiff "The Mandalorian" stammt aus dem "Star Wars"-Universum, die Zeichentrickfilm-Serie "Star Wars - The Clone Wars" dito. "Susi und Strolchi" ist noch eine Live-Action-Neuverfilmung eine Zeichentrick-Klassikers, "High School Musical: Das Musical: Die Serie" zwinkert schon im Titel ironisch mit der Tatsache, dass es sich um die Serienfortführung einer Filmtrilogie handelt, die vor zehn Jahren erfolgreich war.

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Disneys Reinheitsgebote

Und so soll es munter weitergehen. Geplant sind unter anderem diverse Serien-Wurmfortsätze von Marvel-Superheldenfilmen, eine "Monster AG"-Serie, eine "Scott & Huutch"-Serie und eine Neuverfimung von "Kevin - Allein zu Haus". "Leaning into nostalgia", sich der Nostalgie ergeben, so nennt die für das Programm von Disney+ zuständige Managerin Agnes Chu diese Strategie. Das mag für den Einstieg in die Streamingwelt genügen, aber auch langfristig? Wie lange will das Publikum noch Wiedergekäutes vorgesetzt bekommen?

Abgesehen davon, dass es selbst Neuverfilmungen zum Teil schwer haben, Disneys Reinheitsgebote zu erfüllen. Der Konzern muss einerseits Schritt halten mit den rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre, will Frauen und Mädchen stärken, Minderheiten inkludieren, die Freiheit sexueller Präferenz feiern. Andererseits soll das patentierte Disney-Erzählkonzept bestehen bleiben, das eine Welt aus einem Guss imaginiert, die bieder ist, sauber und redlich, in der Widersprüche mit viel Kitsch zugekleistert werden und das glückliche Ende immer schon am Anfang lauert.

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Im Februar wurde bekannt, dass "Love, Victor", eine eigentlich für Disney+ geplante Serien-Neuverfilmung des Liebesfilms "Love, Simon", in den USA stattdessen beim Streamingdienst Hulu gezeigt wird. Das Branchenblatt "Variety" zitiert einen nicht genannten Disney-Insider  mit der Aussage, die Serie sei für Disney+ nicht familienfreundlich genug.

Warum? Weil es darin um die Liebe zweier Jungen geht. Homosexualität nicht nur politisch korrekt zu befürworten, sondern auch konkret zu zeigen - das halten Disney-Entscheider offenbar immer noch für riskant. Kurz darauf wurde bekannt, dass die Produktion des Serien-Remakes "Lizzie McGuire" von Disney gestoppt  und deren Entwicklerin gefeuert wurde - sie hatte eine erwachsenere Version der von Hillary Duff gespielten Hauptfigur zeigen wollen.

Dabei kann es Disney doch. Als direkte Maßnahme gegen die Coronakrise schickte der Konzern nun einen Film drei Monate früher als geplant auf seine neue Plattform, der mit geradezu explodierender Wucht zeigt, wie man Tradition und Moderne, Herz und Hirn, Wespentaille und weibliche Selbstermächtigung auf eine Disney-Formel bringt: "Die Eiskönigin 2". Wieder eine Fortsetzung - aber eine, die zeigt, dass diese Formel eben doch noch lebendig ist und große Kunst hervorbringen kann.

Davon braucht Disney mehr. Für seine Plattform, um in der Streamingwelt bestehen zu können. Und für neue Filmstoffe, damit wir, wenn die Coronakrise endlich überstanden ist, wieder lachend und weinend in den Kinos dieser Welt sitzen können.

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