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"Tatort" aus Dortmund: Vergewaltigung als Familientradition

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Faber-"Tatort" über Missbrauch Bis in die finstersten Abgründe

Wie der Vater so der Sohn? Kommissar Faber verdächtigt einen jungen Mann, die Pädo-Verbrechen seines toten Vaters zu wiederholen. Eine ungeheuerliche Vorstellung - und ein Dortmunder "Tatort", der funktioniert, weil er die Regeln der US-Serienfernsehens beherzigt.

Wer kein eigenes Leben hat, richtet sich gerne im Leben der anderen ein. Notfalls auch in dem eines Pädophilen. Kommissar Peter Faber jedenfalls, der seit dem grausamen Unfalltod von Frau und Kind als tablettensüchtiges Gespenst durch Dortmund geistert, ist deshalb ruckzuck drin in den kranken Köpfen der anderen, um sich dort einzunisten. Im neuen "Tatort" nähert er sich mit fast liebevoller Empathie einem Pädophilen, raunt ihm verständnisvoll vom jungen Fleisch und von zarter Versuchung zu.

In den meisten anderen Fernsehkrimis (hier eine kommentierte Aufstellung aller 21 aktuellen "Tatort"-Teams) würde diese Szene zynisch wirken, hier aber geht sie auf. Das ist vor allem Kommissardarsteller Jörg Hartmann zu verdanken, der sich im vierten Dortmunder "Tatort" endlich auf die richtige Betriebstemperatur gespielt hat. Vorher lag Hartmanns Faber entweder sediert auf der Toilette herum, oder er schlug mit dem Baseballschläger auf Autos ein, jetzt hastet er mit offenem Penner-Parka durch die Stadt. Ein Phantom ohne Privatleben, jederzeit bereit, in düsterste Winkel hinabzusteigen. Auf der Suche nach - ja, nach was eigentlich?

Es hat sich ausgezahlt, dass der WDR den jüngsten "Tatort" in seinem Revier trotz aller planerischen und dramaturgischen Zumutungen nach dem Vorbild von US-Serien in der Horizontalen erzählt, dass also eine Episode auf die andere aufbaut. Ohne sich in den Vordergrund spielen zu müssen, entfalten alle wiederkehrenden Charaktere ein komplexes Eigenleben.

In der aktuellen Folge nun wird Kommissarin Martina Bönisch (Anna Schudt) von dem Callboy erpresst, mit dem sie sich gelegentlich für Schäferstündchen trifft. Und die heimlich verbandelten Ermittler Nora Dalay (Aylin Tezel) und Daniel Kossik (Stefan Konarske) sehen sich mit einer ungeplanten Schwangerschaft konfrontiert. Er feiert sich schon als Papa, sie denkt an Abtreibung.

Missbrauch als Familientradition

Das Erstaunliche: Das Private schiebt sich hier bei aller Dramatik eben nicht vor das Berufliche, vielmehr vermengt sich unheilvoll das eine mit dem anderen. Die persönlichen Konflikte der Kommissare werden weit aufgerissen - im Gegensatz zu anderen Fernsehkrimis zur Primetime werden sie zum Ende aber nicht versöhnlich geschlossen. Der Dortmunder "Tatort" besitzt diese nervöse Grundstimmung, dieses Verlorensein zwischen Böse und Gut, das die Normen des deutschen Fernsehkrimis extrem weitet. Das Unvorstellbare wird vorstellbar.

Allein wie in "Auf ewig Dein" das Thema Pädophilie, das im "Tatort" bereits rauf und runter erzählt wurde, angegangen wird: Der Missbrauch und die Ermordung einer Zwölfjährigen führt zu dem jungen Markus Graf (Florian Bartholomäi) - kein Unbekannter für Faber. Brachte der Kommissar doch vor 15 Jahren dessen Vater für ein fast identisches Verbrechen ins Gefängnis. Der Alte hat sich in der Haft erhängt, der Junge - jedenfalls steuert der "Tatort" schon nach 30 Minuten auf diese Möglichkeit zu - scheint nun dessen Werk weiterzuführen.

Vater und Sohn, getrennt durch den Tod, wiedervereint im Missbrauch? Pädo-Verbrechen als pervertierte Form der Familientradition? Eine ungeheuerliche, hier aber plausible Vorstellung. Regisseur Dror Zahavi und Autor Jürgen Werner, die gemeinsam auch für die aus Jugendschutzgründen auf 22 Uhr verschobene "Tatort"-Folge "Franziska" verantwortlich zeichneten, weiten dafür die Imagination der Zuschauer. Was die Zuschauer möglicherweise nicht mögen werden.

Der junge Mann erscheint hier weder als unschuldiges Opfer seines Vaters noch als geborenes Monster. In der Annäherung an den mutmaßlichen Vergewaltiger und Mörder wird nicht die Genetik-Keule geschwungen, der Mördersohn folgt nicht irgendeiner biologischen Bestimmung, der Fall wird aber auch nicht ins Mythische überhöht. Stattdessen steigt der Zuschauer durch Fabers Rekonstruktion der Ereignisse tief hinab in eine Welt, in der Lust nur in Verbindung mit größtmöglicher Zerstörung möglich scheint.

Es gibt zur Zeit keinen anderen Kommissar im deutschen Fernsehen, mit dem wir anstelle des fiebrigen, grausam unbehausten Faber an solche Orte gehen würden.


"Tatort: Auf ewig Dein", Sonntag, 20.15 Uhr, ARD

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