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Arte-Serie: Bluten muss Italien

Foto: Arte/ Montesi Antonello

TV-Kunstwerk bei Arte Madonna, was für eine Serie!

Italien braucht ein Mirakel. Diese Serie ist eins. "Ein Wunder" erzählt von einer blutenden Heiligenfigur, vor der sich eine Gesellschaft im Verfall versammelt. Archaische Sehnsüchte, hochmodernes Fernsehen.

Die Tränen dieser Madonna reichen für alle Sünder Italiens, und das sind viele. Dort, wo sich beim Menschen die Tränenpunkte befinden, tritt bei der Plastik-Heiligen Blut aus. Gut 600 Liter sind aus der 2,3-Kilogramm-Figur geflossen, seit sie von den Sicherheitsbehörden in Rom an einem geheimen Ort untersucht wird, schon mehrere volle Fässer wurden weggerollt.

Wissenschaftlich ist alles untersucht. Die Madonna, die früher in Kalabrien am Straßenrand gestanden hat, um an einer gefährlichen Kurve Autofahrer zu beschützen, weint menschliches Blut der Blutgruppe 0, die Werte sind normal, ein bisschen Kalziummangel. Es wird sogar eine Probe zur DNA-Untersuchung in die USA geschickt. Ergebnis: braune Augen, kaukasisch, lockige Haare, keine Erbkrankheiten.

Man weiß jetzt alles über das Blut der Plastik-Madonna. Man weiß nichts. Das Ding ist ein Wunder.

Und niemand könnte ein Wunder besser gebrauchen als der alarmierte Ministerpräsident Fabrizio Pietromarchi. Der wird von Guido Caprino gespielt, der zuvor in der meisterhaften Politserie "1993" einen Migrantenhasser und Europaskeptiker der Lega Nord verkörpert hat. In der neuen Serie "Ein Wunder" ist seine Figur nun eher auf der gegenüberliegenden Seite des politischen Spektrums zu verorten: Pietromarchi ist Europa-Freund und Religionsskeptiker. Trotzdem wird er von der Madonna, wie jeder andere, der vor ihr steht, in den Bann gezogen.

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Arte-Serie: Bluten muss Italien

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Europa-Feinde drängen zum Austritt aus der EU, die Lira steht vor einem Comeback, ein Italexit ist wahrscheinlich. Ist die Madonna das Mirakel, das den Umschwung bringt?

Der Tod als letztes großes Rätsel

Jetzt hilft nur noch beten. Die besten, bewegendsten und, auch das, fortschrittlichsten Fernsehproduktionen Europas werden momentan von der Suche nach Spiritualität durchzogen. Der Kontinent zerfällt, die Welt zerlegt sich, die Gesellschaft, im Kleinen wie im Großen, scheint zu versagen, und in den Serien richten die Figuren ihr Sehnen nach höheren Mächten aus.

Im dänischen Zehnteiler "Die Wege des Herrn" war zum Beispiel gerade zu sehen, wie getriebene und von Selbstoptimierungszwängen zerriebenen Protestanten neue, ungewöhnliche Wege zum Glauben finden. In dem französischen Science-fiction Sechsteiler "Ad Vitam" gaben sich die jungen Leute einer Gesellschaft, die durch Wissenschaft das Sterben überwunden hat, einem religiösen Sterbekult hin. Wo das Leben komplett entschlüsselt ist, erscheint der Tod als letztes großes Rätsel.

Der italienische Achtteiler "Ein Wunder", der ab dem 10. Januar auf Arte läuft und bereits jetzt komplett in der Mediathek abrufbar ist , erzählt nun noch aufwühlender von einer Welt, in der man zwar das Genom präzise kartieren kann - und in der das Geheimnis allen Werdens und Seins doch ungelöst bleibt.

Biologin mit Klon-Fantasien

Vor dem Hintergrund eines gespaltenen, verrohten und paranoiden Italiens - im Hintergrund tönen die Fernseher immerzu von "Liquiditätskrise", die Politik flüchtet sich in den Populismus - treffen sich im Bann der blutenden Madonna ganz unterschiedliche Menschen. Der Priester, der der Sex- und Spielsucht anheimgefallen ist und nach seiner Erweckung das Kreuz von der Wand seiner Kirche reißt, um es durch Rom zu tragen. Der Mafia-Handlanger, der von seinem Paten den Auftrag bekommt, das eigene Kind umzubringen, da es für den Tod eines anderen Kindes verantwortlich gemacht wird. Die Biologin, die mithilfe der Madonna ihre Mutter aus dem Wachkoma aufwecken will und sich Klon-Fantasien hingibt.

Wie die Serie "1993", die vom Aufstieg Silvio Berlusconis erzählte, oder wie "Gomorrha" über den mannigfachen Einfluss der Mafia auf Italien ist auch "Ein Wunder" eine Produktion von Sky Italia. Italien praktiziert momentan eine Art Hochamt der europäischen Serie. Wie hier gesellschaftliche Schwingungen in bild-, plot- und figurenstarke Erzählungen mit allgemein gültigen Wahrheiten über Angst, Gier und Zerfall überführt werden, ist einmalig.

"Ein Wunder"-Schöpfer Niccolò Ammaniti ergänzt dieses rigoros wirklichkeitsbezogene Fernsehen nun noch um surreale Bildwelten: Einmal landen wir im Traum der Präsidentengattin, die am Tresen einer Bar sitzt und sich eine unendlich erscheinende Kette von Bonbons aus dem Mund zieht. Ein anderes Mal sind wir im Traum des in Sachen Heiligenfigur ermittelnden Geheimdienstchefs, der im Supermarkt von einer Gruppe Menschen verspeist wird.

Mondo cannibale im Land der Madonnen, Italien braucht ein Wunder.


"Ein Wunder": Alle acht Episoden sind bis 23. Februar in der Arte-Mediathek abrufbar. Ausstrahlung im linearen Programm ab 10. Januar, 20.15 Uhr.

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