Statt ESC Duell der Ersatzshows

Sie moderieren am Samstag: Conchita Wurst und Barbara Schöneberger
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Es war keine Überraschung mehr, als am 18. März die Nachricht kam, dass der Eurovision Song Contest 2020 abgesagt würde. Eine weitere Großveranstaltung, die der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen war. Doch die Enttäuschung war trotzdem groß - bei den ESC-Fans in ganz Europa, aber offenbar ganz besonders bei zweien: Stefan Raab und Thomas Schreiber.
Deren Enttäuschung hat nun zur Folge, dass es am Samstag in Deutschland reichlich Ersatz für den Eurovision Song Contest 2020 geben wird, dessen Finale für den 16. Mai geplant war. Überreichlich sogar - denn zwei Live-Programme, die ESC-Liebhaber reizen könnten, laufen nun gleichzeitig. Es kommt zum Duell der Ersatzshows
Die Vorgeschichte zum Duell
Thomas Schreiber ist der Unterhaltungskoordinator der ARD, er kommt vom Norddeutschen Rundfunk und ist seit Jahren federführend für den Eurovision Song Contest in Deutschland zuständig. Stefan Raab hingegen hat bekanntlich eine lange Geschichte mit dem ESC - als Komponist für Guildo Horn, als Interpret von "Wadde Hadde Dudde Da", als Mentor von Kandidaten wie Max Mutzke, Roman Lob und natürlich Lena Meyer-Landrut. Seit seinem Rückzug aus dem TV-Scheinwerferlicht arbeitet er weiter als Produzent mit eigener Firma, zumeist für ProSieben.
In beider Namen schickte Schreiber, so beschrieb er es in einem Interview mit dem Mediendienst DWDL , am Tag nach der Absage des ESC 2020 ein Alternativkonzept an den europäischen Senderverbund EBU und an die holländischen Kollegen, die nach dem Sieg von Duncan Laurence für die Niederlande 2019 als Ausrichter an der Reihe waren. Danach hätte es einen Wettbewerb der 41 bereits ausgewählten Lieder gegeben - allerdings ohne dass diese auf einer zentralen Showbühne gesungen worden wären. Doch die EBU lehnte ab.
Das löste in Raab Trotz aus. "Wenn es als einzige Lösung einer Krise erscheint aufzugeben, dann ist der beste Zeitpunkt für die Geburtsstunde von etwas Neuem", sagte er in einem von ProSieben verbreiteten PR-Interview .
Mit der Idee zu einem "Free European Song Contest" wandte er sich an ProSieben; Senderchef Daniel Rosemann sprach bei einer digitalen Pressekonferenz am Donnerstag von einer Idee, "die Europa vereint, Musik feiert - und nebenbei noch eine große Show" ergebe. Und dass Stefan Raab sensationell pitchen könne. Man kann es sich lebhaft vorstellen.
Fast zeitgleich mit der Ankündigung des "#FreeESC" für den 16. Mai hatte auch die ARD ein Ersatzprogramm zu verkünden - die europäische Senderunion EBU hatte für den Finaltermin eine Show namens "Europe Shine A Light" beschlossen, mit Aufmerksamkeit für den unglücklichen Kandidatenjahrgang 2020, aber ohne Wettbewerb.
Hier brauchte man sich das Zähneknirschen von ARD-Mann Thomas Schreiber nicht bloß vorstellen: "Ich finde es schwierig, wenn sich Deutschland als eines der großen Länder in Europa einer europäischen Idee entziehen würde, deswegen sind wir mit dabei und unterstützen das jetzt, auch wenn wir uns im Detail das ein oder andere anders, also mehr Raum für die einzelnen Künstler, gewünscht hätten", sagte er DWDL. Aber in diesen Zeiten gelte es zusammenzuhalten.
Doch nachdem beispielsweise aus Schweden oder Österreich schon Planungen zu alternativen ESC-Wettbewerben bekannt wurden - und Stefan Raabs "#FreeESC" viel Aufmerksamkeit bekam, verkündete die ARD im April doch auch noch einen eigenen Wettbewerb um den "deutschen Sieger der Herzen" - mit einer Finalshow am 16. Mai, live übertragen aus Hamburg.
Was plant die ARD?
Um 20.15 Uhr kommt aus Hamburg in diesem Jahr deutlich mehr als das übliche ESC-Warm-up vom Spielbudenplatz an der Reeperbahn. Auch diesmal moderiert Barbara Schöneberger, aber aus der Elbphilharmonie, die Sendung heißt "Eurovision Song Contest 2020 - das deutsche Finale". Als Kommentatoren sind ESC-Urgestein Peter Urban und der Viertplazierte von 2018, Michael Schulte, dabei.
Die Finalisten waren am vergangenen Samstag bei einer Halbfinalshow vom Publikum und einer Jury ausgewählt worden. Fast vier Stunden lang zog sich die auf dem Spartensender One übertragene Sendung, bei der die Musikvideos der 41 qualifizierten Songs gezeigt wurden - moderiert von den Zwillingen Dennis und Benni Wolter, die sonst auf YouTube für das ARD-Jugendangebot Funk die Show "World Wide Wohnzimmer" präsentieren. Der Ton war blechern, die Moderation albern und ahnungslos - der ESC-Blog Aufrechtgehn.de lästerte ausgiebig übers "World's Worst Wohnzimmer". Doch am Ende gab es zehn Final-Teilnehmer.

Diese 10 Titel sind im "deutschen ESC-Finale" der ARD
Drei von ihnen werden live in der Elbphilharmonie auftreten, wie der NDR am Donnerstag mitteilte: die Interpreten aus Dänemark, Island und Litauen. Die anderen sieben werden in Musik- oder Auftrittsvideos zu sehen sein. Für Ben Dolic, der für Deutschland mit "Violent Thing" angetreten wäre, kann natürlich nicht abgestimmt werden. Doch auch er wird auftreten und sich dabei so eng wie möglich an der für Rotterdam geplanten Inszenierung orientieren.
Nach der Wahl des "deutschen Siegers" wird in der ARD zeitversetzt ab 21.55 Uhr die Show "Europe Shine A Light" zu sehen sein. Die EBU-Show aus dem niederländischen Hilversum moderiert ein Trio, zu dem der Florian-Silbereisen-Kollege und Klubbb3-Sänger Jan Smit zählt. Sender aus über 40 Ländern übertragen die Show, bei der nicht nur die verhinderten Teilnehmer des Jahres 2020 gezeigt, sondern auch Überraschungen mit Bezug zur langen ESC-Historie präsentiert werden sollen.
Der ESC-Abend in der ARD wird abgeschlossen mit der nächtlichen Wiederholung des Wettbewerbs von 2010, bei dem Lena den zweiten ESC-Sieg für Deutschland erringen konnte.
Wie wird Raabs "#FreeESC"?
Auch der "Free European Song Contest" beginnt am Samstag um 20.15 Uhr. ProSieben überträgt die Show aus dem Kölner Studio, in dem Conchita Wurst (Eurovision-Sieg 2014) gemeinsam mit Steven Gätjen moderieren werden. Man werde alle Regeln zum Gesundheitsschutz einhalten, beteuern Sender und Produktionsfirma - bei 15 Kandidaten, die auf die Bühne kommen sollen.
Das Konzept von Stefan Raab erinnert stark an seine einstigen "Bundesvision Song Contest"-Shows, nur dass diesmal keine Bundesländer, sondern Staaten von verschiedenen Interpreten vertreten werden. ProSieben-Senderchef Rosemann betonte, man habe darauf geachtet, dass es bei allen Interpreten einen direkten Bezug zu dem Land, das sie vertreten, gibt - Staatsangehörigkeit, Geburtsort oder Herkunft der Eltern. Ein kleiner Seitenhieb an die Konkurrenz, denn Deutschlands designierter ESC-Kandidat 2020 ist in Slowenien geboren, lebte lange in der Schweiz und zog erst nach seiner Kür nach Berlin.

Um die Teilnehmerliste war ein großes Geheimnis gemacht worden. Nun verrieten die Moderatoren in einer Videoschalte zumindest einige Namen. Sängerin Sarah Lombardi (Italien), Teenie-Idol Mike Singer (Kasachstan) und Schlagersängerin Vanessa Mai (Kroatien) sind dabei. Für die Türkei tritt nach Angaben von ProSieben Rapper Eko Fresh zusammen mit Umut Timur an, für Bulgarien die Sängerin Oonagh. Österreich schickt den Popsänger Josh. ins Rennen, der mit dem Bierzelt-Hit "Cordula Grün" bekannt wurde. Großbritannien wird von Kelvin Jones vertreten, Irland von Sion Hill.
Wer für Deutschland singt, ist dagegen noch offen. Stefan Raab hatte erklärt, dass es sich um "eine echte Legende" handeln werde - seither wird spekuliert, er könnte es gar selbst sein. Moderator Gätjen sagte zu diesem Thema am Donnerstag: "Alles kann, nichts muss."
Die Punktevergabe soll sich an dem ESC-Schema ("Douze points") orientieren. In Deutschland, Österreich und der Schweiz stimmen die Zuschauer per Telefon oder SMS ab, für die anderen Länder entscheiden Jurys. Einige Namen derjenigen, die die Abstimmungsergebnisse verkünden werden, machte Stefan Raab bereits öffentlich: Für Polen ist Lukas Podolski dabei, für Irland Angelo Kelly und für Großbritannien Spice Girl Melanie C.
Senderchef Daniel Rosemann kündigte übrigens an, dass man den ProSieben-Ersatz nicht als einmalige Angelegenheit betrachte. Man habe den "#FreeESC" gegründet. "Man gründet nichts für einmal. Man gründet immer für immer."
Und was soll ich gucken?
Es ist natürlich Geschmackssache. Wahrscheinlich sind diejenigen, denen die ESC-Geschichte mit ihren Ritualen und Regeln am Herzen liegt, bei der ARD besser aufgehoben - auch wenn viel vom Charme des Augenblicks auf der großen Bühne verloren ist und der Wettbewerbscharakter eher aufgesetzt wirkt. Wem das Event als Show wichtig ist, dürfte an der ProSieben-Veranstaltung mehr Freude haben - auch wenn die Kandidatenliste bisher hinter den großen PR-Tönen von Stefan Raab zurückbleibt.