Rützels ESC-Kolumne Anja goes to Liverpool – aber wo ist die Euphorie?

Trotz aller freundlichen ESC-Umarmung lässt der Wettbewerb die Stadt im Nordwesten Englands leider nicht funkeln. Jetzt heißt es: über die kleinen Dinge freuen.
Fans in Liverpool: Zwangsläufige Enttäuschung

Fans in Liverpool: Zwangsläufige Enttäuschung

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Anthony Devlin / Getty Images

Zum Glück findet sich wenigstens noch jemand, der richtig schlimme Albträume hatte. Carl, angereister Eurovision-Song-Contest-Fan aus Edinburgh, sitzt im ESC-Village, dem Fan-Vergnügungsgehege am Liverpooler Hafen, in Hintergrund wird auf der Bühne eine angejazzte Version von »Scarborough Fair« dargeboten, und Carl rapportiert, was ihn vergangene Nacht aus dem Schlaf schrecken ließ: »Es war ein Mix aus den Bühnenshows des schwedischen und des finnischen Beitrags, und es war schrecklich.«

In seinem Traum sei nämlich der menschliche pinkfarbene Tausendfüßler, auf dem der Finne Käärijä in einem kreischgrünen Gummibolero reitet – bis hierhin ist es noch reguläre Bühnenshow, kein Albtraum –, versehentlich in die Quetschpresse geraten, zwischen deren zwei Platten sich Schwedin Loreen wie ein renitentes Toastsandwich erst windet und dann schließlich doch noch befreit (so weit ebenfalls reguläre Bühnenshow, kein Albtraum).

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Sie sind im ESC-Finale dabei

Foto: Chloe Hashemi / EBU

In seinem Traum, sagt Carl, sei das nun aber für die finnische Krabbelpolonaise gar nicht gut ausgegangen: »Sie waren am Ende pinker Matsch mit grünen Sprenkeln. Es war alles ziemlich plastisch.«

Auf der Suche nach ESC-Euphorie ist man am Tag vor dem Finale glücklich über solche grausigen Geschichten und über Menschen, die sich in den vergangenen Tagen so sehr in die anschwellende Wettbewerbsspannung hineingeworfen haben, dass sie nicht mehr ruhig schlafen können. Denn der musikalische Großwettbewerb verwandelt Liverpool natürlich doch nicht in den erhofften Paillettenbottich – nicht in ESC-Nerd-Central, wo man beim Anstehen an jedem Kaffeetruck und beim Warten an jeder roten Ampel ganz mühelos in qualifizierte Diskussionen über die siegesstatistisch gesehen beste Startnummer gesogen wird oder wo einen Wildfremde sehr selbstverständlich um den eigenen Beitrag zur ewig ungeklärten ESC-Frage bitten, ob es punktemäßig günstiger ist, wenn der eigene Auftritt zwischen zwei stilistisch ähnliche Fremdbeiträge gebettet ist, um sie dann idealerweise im direkten Vergleich zu übertrumpfen – oder ob man sich lieber mit moodmäßig komplett unterschiedlicher Konkurrenz umgeben würde.

Schuld an allem: Internet

Wie fast an allem Elend und so gut wie jeder Enttäuschung ist natürlich das Internet schuld, dass die eigenen Erwartungen in den vergangenen Wochen der ESC-Vorbereitung übertrieben hochköchelten. Mühelos kann man inzwischen ja ganze Tage damit vertändeln, sich durch YouTube-Reaktion-Videos zu klicken, in denen ESC-Fans jedem Beitrag höchst investiert nachspüren. Oder man hört Analysepodcasts, in denen Lieder und Performance mit Feinstbesteck filetiert werden.

Zusammengeköchelt simuliert diese konfitürte Hingabe eine Euphoriedichte, mit der die Wirklichkeit naturgemäß nicht mithalten kann. Vor allem, wenn die Tickets für die allabendlichen ESC-Partys im Euro-Club schon längst im Voraus ausverkauft sind.

Die Tage vor dem ESC-Finale erinnern damit durchaus an den Countdown zur Krönung von Charles III.: Wenn man beim Herannahen des großen Ereignisses zu viele Reportagen über Menschen gesehen hat, die in Union-Jack-Ponchos seit Tagen an der Mall campieren, ist man zwangsläufig enttäuscht, wenn diese plakative Begeisterung vor Ort in London dann empfindlich absinkt, sobald man sich hundert Meter von ihrem physischen Kern entfernt. Und man sich durch sieben Supermärkte fragen muss, um eine Flasche eigens gebrandeten Coronation-Pimm’s zu bekommen. Nicht, weil die Nachfrage danach zu groß und das festliche Produkt schon ausverkauft gewesen wäre, sondern weil sie zu klein war, um den Tinnef flächendeckend anzubieten.

Das kleine Daumenhoch

Also vergisst man am besten die erwartete Spaßlawine. Und freut sich, es hilft ja meistens, an den kleinen Dingen: dem gegenseitigen Daumenhoch, das man mit einer älteren Dame mit akkurat aufgetragenem Extremglitzer-Gesichtscontouring teilt (und das sie einem für die goldenen Stiefeletten zurückgibt).

Dem Straßenmusiker, der sein Repertoire für diese Tage auf große ESC-Hits umgestellt hat, sie aber nach Conor-Oberst-Art in ziegigen Indieklagegesang hüllt. Und an den vergnügten deutschen ESC-Touristen am Pommesstand, die »Shoo Shoo Shoo« von Jenny & Mel alias Anke Engelke und Bastian Pastewka singen und insistieren, mit diesem Beitrag hätte Deutschland den Sieg schon im Sack.

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