Stephen King, Loriot und Fynn Kliemann am langen Silvester-Wochenende Diese Filme und Serien lohnen sich (aber der Netflix-Jahresrückblick nicht)

Mit »Death to 2020« verabschiedet Netflix ein Jahr zum In-die-Tonne-treten – dorthin gehört aber auch die lahme Satire. Die Stephen-King-Verfilmung »The Stand« erinnert daran, was uns erspart blieb in diesem Katastrophenjahr.
So schlimm war dieses Jahr. Findet sogar die Queen in »Death to 2020«

So schlimm war dieses Jahr. Findet sogar die Queen in »Death to 2020«

Foto: Keith Bernstein / Netflix

»Death to 2020«, Netflix

Ja, 2020 war ein Jahr zum In-die Tonne-treten, aber es hat gerade deshalb bessere Gags verdient als solche: »Der Lockdown wurde zum erfolgreichsten globalen Franchise seit der Erfindung des Marvel Cinematic Universe.« Das ist aber das Niveau, auf dem sich der satirische Jahresrückblick des »Black Mirror«-Machers Charlie Brooker von Beginn an einpendelt. Diverse Filmstars sitzen in semi-komischen Rollen herum – Hugh Grant als Historiker, der »Star Wars« mit Weltgeschichte verwechselt, Lisa Kudrow als Trump-hörige Regierungssprecherin, Tracey Ullman als derangierte Queen – und kommentieren mit Zweizeilern das Horror-Kabinett der Jahresbegebenheiten.

»Warum verdammt noch mal sollte man das machen?«, fragt Samuel L. Jackson als »New York Times«-Reporter gleich zu Beginn des Films, und seine Reaktion bleibt wie grauer Januar-Niesel über dem von Netflix selbst dazu überhöhten »Comedy Event« hängen. Brooker hat eigentlich Erfahrung mit Jahresrückblicken, der Brite macht das seit Jahren für die BBC, aber gegen den galoppierenden Irrsinn dieses speziellen Jahres wirken seine harmlosen Kurz-Gags einfach komplett zahnlos.

Vor allem, wenn es um Trump geht: Wie soll man es satirisch toppen, wenn der US-Präsident gegen das Virus ein Sonnenbad empfiehlt? Wie seine Weigerung, nach dem Wahlverlust die Realität anzuerkennen? Dass das tatsächlich geht, zeigte auch in diesem Jahr der unermüdliche John Oliver in seiner »Last Week Tonight Show« beim Netflix-Rivalen HBO. Oliver sitzt eigentlich nur hinter einem Schreibtisch und redet, aber was er sagt, hat Gewicht, weil es in seiner politischen Analyse tiefenscharf und in seiner satirischen Übertreibung unverschämt ist (Oliver nennt Trump mittlerweile routiniert »Arschloch«). Brooker montiert dagegen die zum Himmel schreiende Farce der Trump-Präsidentschaft und die Katastrophe der Pandemie zu harmlosen Comedy-Häppchen. Das ist unbefriedigend gedankenfaul. (ab 31.12.) Oliver Kaever

Dreiradantrieb ganz neu gedacht: Fynn Kliemann (2.v.l.) in »Die Lieferung«

Dreiradantrieb ganz neu gedacht: Fynn Kliemann (2.v.l.) in »Die Lieferung«

Foto:

Tino Sieland / ZDF

»Die Lieferung«, ZDF Mediathek

Muss irgendwo ein Gartentisch gebastelt, ein Teich angelegt oder eine Mauer hochgezogen werden, kann Fynn Kliemann  nicht weit sein. Der Mann mausert sich gerade zum Klöppel-König und Do-It-Yourself-Beauftragten des deutschen Fernsehens. Könnte man meinen. In Wahrheit bastelt Klieman, Musiker, Filmemacher, Social-Media-Star, natürlich nur symbolisch an Gartenteichen und eigentlich an Lebensphilosophien: DIY für die Verwirklichung von Utopien und Träumen. Jetzt möbelt er erst einmal ZDFneo auf, den Mainzer Sender-Ableger für junge Leute. Für »Die Lieferung« baut er mit einem Team nicht minder cooler und begeisterungsfähiger Mitschrauber (unter anderen eine Profi-Snowboarderin und eine Profi-Parcour-Läuferin) verrückte Dinge aus scheinbar zufällig angelieferten Waren. Ein Dreirad mit Turbinenantrieb etwa. Oder: »geilen Scheiß«, wie der Sprecher zu Beginn aufgeregt verkündet. Klar kann man sich da fragen, was das soll und wer das braucht. Das wären aber die falschen Fragen, die sich genauso an 85 Prozent der diesjährigen TV-Produktionen richten ließen. Was hier ganz gut geht: Zurücklehnen, dem hedonistischen Treiben zuschauen und mitreißen lassen von der Begeisterung junger Leute, die sich ihr Leben zurechtbasteln. Oliver Kaever

Schmerzhafter Stoß gegen die gläserne Decke: Amanada Searle in »Industry«

Schmerzhafter Stoß gegen die gläserne Decke: Amanada Searle in »Industry«

Foto: Amanda Searle / HBO / Sky

»Industry«, Sky

Am Ende der ersten Folge sackt ein junger Banker mit einem tödlichen Herzinfarkt auf der Toilette zusammen, damit ist der dramatische Ton für die folgenden sieben Episoden gesetzt. Die britisch-amerikanische Serie »Industry« erzählt von dem potentiell mörderischen und selbstmörderischen Konkurrenzkampf, den sich eine Gruppe angehender Investmentbanker im Kampf um einen festen Schreibtisch bei dem furchteinflößend erfolgreichen Londoner Unternehmen Pierpoint & Co. liefern. Viel Red Bull und weißes Pulver, viel Aktienkursgeklacker und Angstschweißgetropfe – die Serienschöpfer setzen auf die übliche, Hochdruck suggerierende Finanzindustrie-Folklore und erzählen ihre Geschichte zugleich als Coming-of-Age-Geschichte mit vielen sexuellen Selbst- und Fremderkundungen. Die erste Folge wurde von »Girls«-Erfinderin Lena Dunham in Szene gesetzt, und in ihren stärkeren Momenten wirkt die Koproduktion von HBO und BBC tatsächlich wie eine Mischung aus »Bad Banks« und »Girls«. Subtil wird die Serie, wenn sie davon handelt, wie moderne Unternehmen mit dem Thema Diversity umgehen: Zwar feiert der gezeigte Finanzkonzern seine schwarzen oder schwulen Investment-Aspiranten – doch die stoßen sehr schnell und schmerzhaft an die gläserne Decke. Das Finanz-Establishment bleibt weiß und heterosexuell. Christian Buß

Nervendes Melodram und ikonisches Abbild einer untergehenden Kino-Ära: Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in »Titanic«

Nervendes Melodram und ikonisches Abbild einer untergehenden Kino-Ära: Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in »Titanic«

Foto: ddp images

»Titanic«, Amazon Prime Video

Ich hatte schon als Kind Bildbände über den Untergang der RMS Titanic verschlungen und jagte nach der Ankündigung der Dreharbeiten zu James Camerons Epos jedem Schnipsel der Berichterstattung über die Dreharbeiten nach. Als der Film dann in die Kinos kam – ich sah ihn während eines Studienaufenthaltes in Kalifornien – zerfloss ich fast zwischen den Polsterstuhlreihen. Nicht aus Rührung über die Lovestory, sondern vor Enttäuschung. Was sollte bloß dieses gefühlt stundenlange Am-Bug-Stehen-Und-Die-Arme-ausbreiten? Was war mit dem Eisberg, kreischendem Metall, Untergangsdramatik? Das alles kam dann ja noch, und sehr eindrucksvoll dazu, aber insgesamt war mir damals zu viel Melodram und zu wenig existenzielles Drama. Heute lassen mich die vielen ikonischen Szenen dieses Films eher an einen anderen, drohenden Untergang denken, der hoffentlich noch abgewendet werden kann: den des Kinos selbst. Fraglich, ob ein Projekt des Irrsinns und der Egomanie, als das »Titanic« vor dem Erfolg an den Kinokassen galt, heute mit einem Streamingdienst möglich wäre.

Und nun zu ganz praktischen Erwägungen. Feiern im großen Kreis können Sie Silvester dieses Jahr sowieso nicht, und wenn die Stunden bis Mitternacht darauf hinauslaufen, dass die Zeit irgendwie herumgebracht werden muss: Es dauert drei Stunden und 15 Minuten, bis Jack von der Scholle rutscht. Damit haben Sie den Abend fast geschafft. Und sich zusätzlich daran erinnert, wie großes Kino aussieht. Oliver Kaever

Mokka-Trüffel-Parfait mit einem Zitronencreme-Bällchen oder kurz Kosakenzipfel: Auch daran kann sich bei Loriot heftiger Streit entzünden

Mokka-Trüffel-Parfait mit einem Zitronencreme-Bällchen oder kurz Kosakenzipfel: Auch daran kann sich bei Loriot heftiger Streit entzünden

Foto:

Radio Bremen / ARD

»Loriot«, ARD Mediathek

Es ist ganz gleich, welchen Einstieg Sie in Loriots Werk wählen, weil fast alles gleich großartig ist. Vielleicht ist Loriot auch deshalb so beliebt an Silvester: Weil man sich nicht lange fragen muss, welcher Sketch sich wirklich lohnt und lustig ist. Die ARD macht die klassische Serie aus den Siebzigerjahren in der Schnittfassung von 1997 komplett in ihrer Mediathek verfügbar, und eigentlich könnte man alles noch einmal anschauen, ohne sich zu langweilen. Vielleicht wird Loriot mit den Jahren sogar noch besser, weil sein gedrechselter, distinguierter Sprachwitz in der Rückschau noch geschliffener wirkt, und auch noch demaskierender. Das buchstäbliche Aus-der Rolle-fallen, das seine Figuren praktizierten, zeigt, wie sehr sich einige dieser Rollen heute aufgelöst haben mögen, wie viel durchlässiger die Gesellschaft geworden ist. Aber wenn es bei Loriot darum geht, für den eigenen Vorteil die Ellbogen auszufahren, und sei es nur beim Bettenkauf – Herr Hallmackenreuter! –, dann erkennt man Kontinuitäten, die auch heute noch reichlich Reibungsfläche bieten. Und sollten wir irgendwann im kommenden Jahr tatsächlich wieder in einem Konzertsaal Platz nehmen können, werde ich ganz sicher tief in meinem Innern eine Stimme hören, die da sagt: »Brate fettlos mit Salamo ohne«. (Die Loriot-Spielfilme »Ödipussi« und »Papa Ante Portas« sind gerade bei Netflix zu sehen) Oliver Kaever

An Perücke und Kostüm lässt sich das Niveau dieses Films ungefähr ablesen: Henning Baum (M.) in »Asphalt Burning«

An Perücke und Kostüm lässt sich das Niveau dieses Films ungefähr ablesen: Henning Baum (M.) in »Asphalt Burning«

Foto:

Tom Trambow / Netflix

»Asphalt Burning«, Netflix

Die Zeit rast, und gleichzeitig steht sie auf der Bremse. Seit Jahren wird leidenschaftlich über die Zukunft des Verkehrs diskutiert, über Elektromobilität und autofreie Innenstädte, während unverändert die Benziner an Fahrradfahrern wie mir vorbeilärmen und -stinken. Sogar die gute alte Autoproll-Komödie lebt immer noch, und Netflix wäre nicht der größte Gemischtwarenladen unter den Streamingdiensten, hätte er nicht auch für Fans dieses Genres etwas im Angebot. »Asphalt Burning« ist ein Film aus Norwegen und, was Netflix verschweigt, eigentlich der dritte Teil einer dort immens erfolgreichen Filmreihe, die im Original »Børning« heißt. Immer geht es um den sympathischen Autonarren Roy, der aus diversen Gründen an illegalen Autorennen teilnimmt. Es ging schon zum Nordkap und nach Murmansk, und jetzt heizt Roy quer durch Deutschland zum Nürburgring. Das ist nur knapp über "Manta, Manta"-Niveau, gibt aber deutschen Schauspielern wie Henning Baum, Alexandra Maria Lara, Peter Kurth und Milan Peschel die Gelegenheit zu teilweise ganz lustigen Gastauftritten. Bleibt abzuwarten, wie sich das Genre verändert, wenn die darin zu Schrott gefahrenen Karren nicht mehr angeberisch röhren, sondern leise elektrisch summen. Ob dann auch die Geschichten leiser und subtiler werden? Schwer vorstellbar. Vielleicht ist es zum Ende des Feiertagsmarathons gar nichts so schlecht, sich noch einmal mit dem imaginären Duft von Benzin zu dopen, bevor der doch noch irgendwann aus der Welt verschwindet. (ab 2. Januar) Oliver Kaever

Verkörperung des Guten: Whoopi Goldberg als Mutter Abigail in »The Stand«

Verkörperung des Guten: Whoopi Goldberg als Mutter Abigail in »The Stand«

Foto: Robert Falconer / CBS / Starzplay

»The Stand«, Starzplay

Was wäre, wenn eine Pandemie ausbräche, bei der Erkrankte erst noch höflich in die Armbeuge niesen und wenig später röchelnd zusammenbrechen? Der große Horror-Autor Stephen King hat sich dieses Szenario bereits 1978 ausgedacht, für seinen mit 1152 Seiten bis dato längsten und neben »Es« besten Roman. Dass seine nach 1994 zweite Verfilmung als Miniserie ausgerechnet im Jahr einer echten Pandemie erscheint, ist natürlich ein Zufall, wie ihn selbst King nicht hätte ersinnen können. In den USA startete die Serie ein wenig früher als hierzulande und wurde von der Kritik recht ungnädig aufgenommen. Zurecht, weil selbst neun Episoden nicht ausreichen, um das komplexe Figurengeflecht der Vorlage auf befriedigende Weise aufzudröseln und so, wie schon beim ersten Versuch, der triviale Kampf Gut gegen Böse zu stark in den Vordergrund rückt. Mit jeder Episode wird diese Serie schwächer. Die erste Folge aber, die ist wirklich stark (und sie lässt sich mit einem kostenlosen Probeabo schauen). Man sieht eine entvölkerte Welt, eine zusammenbrechende Zivilisation, und wer, wenn nicht der pandemiegeplagte Zuschauer der Gegenwart, reagiert ganz unmittelbar auf diese überzeugend inszenierten Bilder. Es ist eine Reinigung der Affekte der ganz besonderen Art, nicht diffus, sondern sehr konkret. Unsere Welt wird nicht untergehen. 2021 wird das Jahr sein, in der die Menschheit Corona besiegt. Und Stephen Kings Vision bleibt ein Horror-Märchen. (ab 3. Januar) Oliver Kaever

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