»Free ESC« bei ProSieben Am Ende gewinnt der eine, der Kindergeburtstagsspiele ernst nimmt

Stefan Raab darf weiter Eurovision Song Contest spielen. Einer aus der Musikshow-Stammbesetzung siegte, für die Türkei wurde ein Zeichen gesetzt, und der deutsche Kandidat sah nur aus wie Udo Lindenberg.
Die Berliner Sängerin Elif trat für die Türkei an: »Baba, deine Tochter liebt die Sünde«

Die Berliner Sängerin Elif trat für die Türkei an: »Baba, deine Tochter liebt die Sünde«

Foto: Willi Weber / dpa

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Wie ein Kind, das seine Lieblingsshow mit seinen Freunden auf dem Kindergeburtstag nachspielt, richtet Stefan Raab als Produzent bei ProSieben immer wieder Sendungen nach dem Vorbild des Eurovision Song Contest aus. Jahrelang moderierte Raab den Bundesvision Song Contest. Und 2020 fand er den Anlass, sogar einen eigenen europäischen Gesangswettbewerb auszurufen, den »Free European Song Contest«.

Damals war die »echte« Eurovision-Show coronabedingt abgesagt worden, nur eine eher lahme Ersatzsendung angekündigt. Doch Raab wollte einen Wettstreit, und den richtete er einfach selbst aus, in direkter Konkurrenz zum Programm von ARD und der europäischen Rundfunkunion EBU.

Doch in diesem Jahr wird die EBU wieder einen Wettbewerb wagen, sogar vor ein bisschen Publikum in Rotterdam. Aber Raab und ProSieben hielten fest am »Free ESC«-Konzept, zogen die Sendung bloß um eine Woche vor, sozusagen zum Start der Eurovision-Woche. Für Fans gibt es ESC-Wiedererkennungseffekte wie das »Europe, start voting NOW!!!« vom Moderationsduo Conchita Wurst und Steven Gätjen. Auch dass die Voten von einem bis zwölf Punkten pro Land am Ende eine Stunde lang verlesen werden, weckt nostalgische Gefühle.

Kommentar zum Chanson-Söldnertum

Aber es fehlt dem Wettbewerb das repräsentative Element, ähnlich wie einst beim Bundesvision Song Contest, als Berliner Bands für Sachsen-Anhalt oder das Saarland spielten, weil der Bassist aus Halle weggezogen war oder die Oma des Drummers bei Saarbrücken lebt. So ist es auch hier, wenn Jasmin Wagner wegen ihrer kroatischen Mutter oder Mandy Capristo wegen des italienischen Vaters ihre sehr deutschen Popschlager unter fremder Flagge singen.

Nun ließe sich einwenden, dass beim Original-ESC ein gewisses Chanson-Söldnertum dazugehört; Céline Dion aus Quebec siegte einst für die Schweiz, Vicky Leandros für Luxemburg. Wie zum Beweis trat beim »Free ESC« nun der Slowene Ben Dolic (im Häkel-Netzhemd!) für sein Heimatland an, der 2020 Deutschland beim Eurovision Song Contest hätte vertreten sollen. Und doch ist die Fallhöhe eine andere, wenn es halbwegs offizielle Stellen sind, die darüber entscheiden, wer ein Land vertritt – und nicht mehr oder weniger zufällig bekannte Interpreten wie Amy Macdonald oder Milow gerade Zeit haben, eine aktuelle Single vorzustellen, bloß halt für Schottland oder Belgien.

Für die alten »TV Total«-Fans gibt es Brechungen der Wettkampfatmosphäre durch saublöde Länderklischee-Einspieler mit der Offsprecher-Legende Manfred Winkens. Einst brach Stefan Raab als Songwriter und Produzent mit »Wadde hadde dudde da?«-Nonsens oder »Guildo hat euch lieb«-Ironie die allzu weihevolle Atmosphäre des ESC auf. Doch heute können die ESC-Macher Selbstironie selbst besser, und die abgestandenen Gags lassen die Konkurrenzshow altbacken wirken.

Douze points für einen »sehr wichtigen Song«

Was die Fallhöhe des Eurovision Song Contests zusätzlich ausmacht, ist, dass immer wieder Delegationen und Künstler den Auftritt vor der gesamteuropäischen Öffentlichkeit dazu nutzen wollen, um ihre Message zu verbreiten; eine gesellschaftliche Botschaft zu senden – nicht zu politisch allerdings, das widerspräche ja den EBU-Statuten. Es gab da sehr kraftvolle und bewegende Momente. Aber es gibt auch immer wieder Lieder voller »Be strong«-Beschwörungen und »Unity«-Aufrufen, die vage bleiben und hohl klingen.

Deutlich konkreter ist da der Auftritt der Berliner Sängerin Elif: Sie tritt beim »Free ESC« für die Türkei an, und mit ihrem Song »Alles Helal« rebelliert sie gegen islamische Tugendwächter: »Baba, deine Tochter liebt die Sünde«, singt sie den Vater an – und hat sich dazu ein blaues Auge geschminkt. Der Auftritt ist ein Protest gegen Gewalt gegen Frauen und LGBTQ-Personen, die es nicht nur in der Türkei gibt, aber dort sei »die Situation besonders schlimm«, wie Elif in einem Instagram-Post kommentierte.

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Bei der Abstimmung lobte die für Kroatien sprechende Monica Invancan den »sehr wichtigen Song« und gab mit zwölf Punkten die höchste Wertung. Aber auch die drei Länder, die per Televoting abstimmen durften, hatten offenbar die Botschaft vernommen: Elif erhielt aus Deutschland zehn, aus Österreich acht und aus der Schweiz immerhin noch fünf Punkte.

Die Länder, die nicht zum Sendegebiet von ProSieben zählen, wurden von Einzeljuroren vertreten, die nach zum Teil kuriosen Kriterien ausgewählt wurden: Für Slowenien und Polen stimmten Freunde und Verwandte der Interpreten ab, für Spanien war der scheidende FC-Bayern-Spieler Javi Martínez aus dem Quarantänetrainingslagerhotel zugeschaltet, der Ire Johnny Logan grüßte aus Rotterdam, wo er sich wegen eines »other big music event next week« aufhält, und »Wellerman«-Shantysänger Nathan Evans gab mit herrlichem Akzent (»sax puints«) zu erkennen, dass er zurecht für Schottland sprach. Doch die Botschaft einer Elif kam bei ihm so wenig an wie bei anderen der deutschen Sprache nicht mächtigen Juroren: Es war eben eine Botschaft, die in der Form nicht an eine paneuropäische Öffentlichkeit gerichtet war, wie es beim ESC eben doch der Anspruch ist.

Pulli mit Irlandfahne

Dem deutschsprachigen Publikum wohlvertraut ist Rea Garvey, der für das Land antrat, aus dem er 1998 nach Deutschland gekommen war: Irland. Während andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Hommage an das Land, das sie vertreten sollten, einzelne Songzeilen in Heimatsprache in die deutschen oder englischen Texte einflochten, trat Garvey mit einer speziellen Version seiner eigentlich schon im November erschienenen Hitsingle »The One« auf – sozusagen irisiert mit einem neuen Fiddle-Intro.

Irish-Folk-Anklänge zu einer Midtempo-Rockballade mit House-Elementen im Refrain: Das war eine Mischung, mit der internationale Juroren, ob jung oder alt, genug anfangen konnten, um regelmäßig zumindest mittlere Punkte zu geben. Und die Abstimmenden der drei Televoting-Länder, die Rea Garvey aus dem Mainstream-Radio und als Juror diverser Musikcastingshows kennen, waren sich einig: »The One« war die Nummer eins, dreimal »douze points«.

Sowieso hatte Rea Garvey mehr Engagement gezeigt als die meisten Mitstreitenden: Auf der Bühne trug er einen Pulli mit Irlandfahne, und die Topwertungen quittierte er mit kernigen »Yeah«-Rufen. Er gewinne sonst nie bei irgendwas, jubelte er nach dem entscheidenden Votum. Dabei hatte er doch in der Sendung gewirkt wie die erwachsene Form des Jungen, der beim Kindergeburtstag jedes Wurstschnappen und jeden Eierlauf unbedingt gewinnen muss. Also ganz nach Stefan Raabs Geschmack.

Und wer vertrat Deutschland?

Als Überraschung hatte Raabs Team schon in der ersten Austragung des »Free ESC« den deutschen Beitrag inszeniert. Seinerzeit war es Helge Schneider gewesen mit einem schnurrigen Corona-Isolations-Liedchen. Diesmal schien die Überraschung schon im ersten Werbeblock aufgeflogen zu sein, in dem ein neues Udo-Lindenberg-Album beworben wurde.

Dann kam Deutschland an die Reihe, Steven Gätjen röhrte routiniert die Karrierehighlights von Lindenberg herunter – und dann trat mit Hut und lässigem Mikroschwingen Helge Schneider als Udo-Imitator auf und sang eine Ode auf Helge Schneider, natürlich im Panik-Gaga-Sound (»Lass sie labern, die Schwachmaten«).

Das war eine gelungene Überraschung, und es wäre ein guter Running Gag für künftige »Free ESC«-Shows, wenn es die denn unbedingt geben soll: Wen vertritt Helge Schneider für Deutschland?

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