
Heimat-Thriller "Das unsichtbare Mädchen": In der Provinzhölle
TV-Thriller von Dominik Graf Heimat der Kranken
Ach, Heimat. Manche Menschen müssen erst bis zum Hals in der Erde eingegraben werden, um zu kapieren, was die anderen unter diesem Begriff verstehen. So wie der aus Berlin nach Oberfranken abkommandierte Hauptkommissar Tanner (Ronald Zehrfeld), dessen Kopf aus fruchtbarer Erde in einem Waldstück nahe der tschechischen Grenze herausschaut, als ihm im ersten Morgenlicht ein Wildschwein seinen Atem ins Gesicht schnaubt.
Eingebuddelt wurde der Berliner Bulle von Bordellbetreibern, die auf tschechischer Seite einen Club führen, in dem sie Minderjährige zur Prostitution zwingen. Tanner wollte ihre dreckigen Geschäfte durchkreuzen, geriet dann aber in ihre Hände. Das Wildschwein soll die Sache für die Zuhälter nun kurz und schmerzvoll erledigen: Tanner blinzelt beschwichtigend, als der Keiler in der milden Morgensonne seine Eckzähne zeigt.
Dominik Graf hat mit dem TV-Film "Das unsichtbare Mädchen", der am Freitag Fernsehvorpremiere auf Arte feiert, ein modernes oberfränkisches Heimatdrama in Szene gesetzt, gedreht wurde fast komplett in der Gegend um Hof, in alten Dörfern und verwunschen anmutenden Forsten. Wie es sich fürs Genre gehört, umfasst das Setting nur wenige Quadratkilometer, und die Naturaufnahmen samt Sonnenaufgängen, Wildschwein-Impressionen und biblischen Regengüssen sind exzellent.
Bierkutscher im Sex Traffic
Im eng gesteckten geografischen Rahmen erzählt Graf ("Im Angesicht des Verbrechens") über die neuen Verteilungskämpfe in Oberfranken: Während die Menschen auf der deutschen Seite in "Stüberln" beisammensitzen oder als "Bierkutscher" arbeiten, hat sich nur wenige Kilometer entfernt auf tschechischer Seite eine Sex-Schattenindustrie samt Kinderprostitution entwickelt. Der Babystrich fängt hier gleich hinterm Waldrand an. Die Frage ist: Was machen die Deutschen, wenn sie auf die andere Seite fahren - nur günstig einkaufen oder auch günstig ihren Trieb ausleben? Oder partizipieren sie gar wirtschaftlich am Sex Traffic? In seiner Heimat-Meditation weitet Graf den Blick für größere Zusammenhänge.
Dabei beginnt alles auf engstem Raum: In einer Schankwirtschaft im fiktiven Ort Eisenstein, wo vor elf Jahren ein Mädchen ermordet wurde, verläuft eine Grenze, die jemand mit roter Farbe über die Dielen gezogen hat. Auf der einen stehen die, die glauben, dass der Fall nie korrekt geklärt wurde, auf der anderen jene, die meinen, alles habe seine Richtigkeit gehabt. Als Täter wurde ein geistig Behinderter verhaftet.
Während der frühpensionierte Hauptkommissar Altendorf (Elmar Wepper) an dem Fall und seiner fragwürdigen Auflösung zugrunde gegangen ist, versucht der nachgerückte Kollege Michel (Ulrich Noethen) die offizielle Version aufrechtzuerhalten. Bitter prosten sich die beiden über die rote Demarkationslinie zu. Der aus Berlin dazugestoßene Tanner entdeckt bald Ungereimtheiten und gerät zwischen die Fronten: So entstand das Geständnis des Behinderten unter Druck, eine Leiche wurde nie gefunden.
Das Dorf als offene Wunde
Kommt Ihnen bekannt vor? Gut möglich: Die Versatzstücke erinnern frappierend an den Mordfall Peggy, der vor elf Jahren Oberfranken in einen Ausnahmezustand versetzte und dessen Nachwirkungen bis heute anhalten: Momentan erarbeitet der Anwalt des geistig Zurückgebliebenen Ulvi K., der 2004 schuldig gesprochen wurde, an einem Wiederaufnahmeantrag, viele wittern hinter dem Fall einen Justizskandal.
Bei der Uraufführung während der Hofer Filmtage wurde "Das unsichtbare Mädchen" letzten November gefeiert - endlich hat mal wieder jemand die Geschichte aufgerollt! Die Filmemacher betonen aber, dass sie trotz aller Parallelen nicht den Fall Peggy nacherzählen. Das müssen sie auch tun: Würden sie ihr Werk als Rekonstruktion des realen Verbrechens ausgeben, könnten sie sich schon mal auf eine einstweilige Verfügung einstellen. Denn in Grafs Film führen alle Fäden zu Bayerns Innenminister, im Film ein Machtmonster mit pädophiler Neigung. Der reale Innenminister, der ab 2001 die Untersuchungen zum Fall Peggy verantwortete, heißt Günther Beckstein. Der wäre über diese Interpretation wohl nicht amüsiert.
Leider aber ist die Fährte in die hohe Politik die Schwachstelle von Grafs wuchtigem Heimat-Schocker. Seine Autoren, der Krimi-Romancier Friedrich Ani und die Journalistin Ina Jung, liefern einfach nicht das narrative Gerüst, um einen politischen Verschwörungs-Thriller zu stemmen. Oder: Vielleicht haben sie es geliefert, auf jeden Fall aber interessiert sich Graf nicht die Bohne dafür.
Der Regisseur, der letzte Woche für das Krimi-Panorama "Dreileben" seinen zehnten Grimme-Preis erhalten hat, steht nicht für ein Erzählfernsehen der Plot-Points, Küchenpsychologisierungen und beflissenen zeithistorischen Nachstellungen. Er arbeitet mit Assoziationen, Adrenalinschüben und Überrumpelung. Und ist dabei auf seine Art extrem analytisch: Richtig gut ist sein neuer Film immer da, wo er die psycho-ökonomischen Kraftströme der Dorfregion ausleuchtet. Da entwickelt Graf fast die Schärfe wie bei seinem Luden-Porträt "Hotte im Paradies" aus dem Jahr 2002, in dem er den unternehmerischen Überlebenskampf eines Westberliner Zuhälters schildert.
Geld, Liebe, Triebe - das sind auch die großen Themen dieses modernen Heimatfilms und seiner Figuren. Etwa für die melancholische osteuropäische Ex-Prostituierte, die über die materiellen Aspekte der Liebe philosophiert. Oder für die Mutter des verschwundenen Mädchens, die mit dem Besitzer eines tschechischen Bordells liiert ist. Oder für den oberfränkischen Bierkutscher, der nicht so genau weiß, was seine Frau eigentlich treibt, wenn sie über die Grenze zur Arbeit im Supermarkt geht. Das Dorf als offene Wunde.
Der Regional-Krimi, bei Graf ist er zu gleichen Teilen Landschafts-Hommage und pathologischer Befund: Oberfranken, Heimat der Kranken.
"Das unsichtbare Mädchen", Freitag, 20.15 Uhr, Arte