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"Tatort"-Ermittler Król und Kunzendorf: Dreh den Jazz auf!

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HR-Fernsehspielchefin zum "Tatort" "Geringe Quote? So what!"

Die aufregendsten "Tatorte" kommen aus Frankfurt. Definitiv! An diesem Sonntag startet das neue Team mit Nina Kunzendorf und Joachim Król. Im Interview spricht HR-Fernsehspielchefin Liane Jessen über Quotendruck, die Lust am Experiment - und schöne Schauspieler, die oft nichts können.

SPIEGEL ONLINE: Frau Jessen, haben Sie nicht manchmal Angst, dass Sie das ARD-Primetime-Publikum am Sonntag überfordern?

Jessen: Nein, wie kommen Sie darauf?

SPIEGEL ONLINE: Bei der Vorbereitung ihrer "Tatorte" halten Sie Ihr Team gerne an, sich am Filmtheoretiker Eisenstein oder am italienischen Kinoerneuerer Antonioni zu orientieren. Ist das nicht zu viel Filmavantgarde für die gute, alte Tante "Tatort"?

Jessen: Überhaupt nicht, das muss der Zuschauer aushalten. Außerdem stört es mich, dass die große Kunst des Kinos im Gegensatz zu den anderen Künsten offensichtlich keinen Platz im Bildungskanon findet. Wer kennt denn von den Filmstudenten noch den frühen Ingmar Bergman? Ich möchte ein solches filmerzählerisches Erbe nicht einfach verblassen sehen, sondern ich ermutige junge Filmschaffende, sich an ihm zu orientieren. Das kann eine unheimliche Tiefe schaffen - mit der sich der deutsche Fernsehzuschauer zur Abwechslung ruhig mal konfrontieren darf. Als Ausgleich zu dem, was ihm sonst so serviert wird.

SPIEGEL ONLINE: Und den unkonventionellen Musikeinsatz muss er gleich auch noch ertragen? Beim ersten "Tatort" des neuen Ermittlerteams Joachim Król und Nina Kunzendorf, der an diesem Sonntag läuft, verzichten Sie auf einen Score und lassen stattdessen gleich mehrmals den Elektrojazz-Extremisten Matthew Herbert laufen.

Jessen: Ich finde deutsche Filmmusik oft völlig uninspiriert, vor allem diejenige, die ich im Fernsehen höre: jetzt was Trauriges, jetzt was Lustiges. Zusammengemischt an irgendeinem Sampler.

SPIEGEL ONLINE: Aber beschwert sich bei all ihren Primetime-Zumutungen nicht manchmal HR-Intendant Helmut Reitze?

Jessen: Nein. Er sieht es wohl so wie ich: Wenn ein Programm zur besten Sendezeit bis zu 33 Prozent Marktanteil erzielt, so wie der "Tatort" am vergangenen Wochenende, dann ist man dazu verpflichtet, eben genau dort das Gedächtnis an Filmkunst zu bewahren und es für neue gegenwärtige Erzählweisen wiederzuentdecken.

SPIEGEL ONLINE: Und ohne Rücksicht auf Verluste zu experimentieren? So wie Sie es 2003 in der legendären "Tatort"-Folge "Das Böse" getan haben - bei deren Ausstrahlung viele Zuschauer beim Sender anriefen, weil sie mit dem Vor- und Rückblenden nicht klarkamen?

Jessen: Und zu experimentieren, selbstverständlich! Sehen Sie, es ist doch sonst alles genormt. Vieles wird ähnlich abgefilmt, vieles wird gleich ausgeleuchtet. Und wenn wir mal durch unsere fordernde Erzählweise Zuschaueranrufe bekommen oder eine etwas geringere Quote erzielen: So what? Bei einem gewissen Qualitätsanspruch ist es nicht so wichtig, ob man nun 33, 28 oder 23 Prozent Quote hat.

SPIEGEL ONLINE: Entschuldigung, stehen Sie mit dieser Haltung in der ARD nicht ziemlich alleine da? Es ist ja bekannt, dass die Programmplaner Ihrer Anstalt sofort einschreiten, wenn bei den Quoten nicht alles tiptop ist.

Jessen: Sagen wir mal so: Unter den Kollegen mit Entscheidungshoheit befinden sich nicht nur mutige Charaktere. Da wird dann political correctness mit einer konventionellen Erzählweise geschätzt.

SPIEGEL ONLINE: Sie halten von solchen Vorsichtsmaßnahmen nichts?

Jessen: Nein, aber mit dem HR habe ich natürlich eine Insel der Glückseligkeit gefunden. Das hat auch damit zu tun, dass wir als einzige ARD-Anstalt unsere Filme selber produzieren, das macht einen souveräner. Apropos Politik: Die Ausgewogenheit in der Führung des HR tut Gutes. Der Programmdirektor Herr Krupp und der Intendant Herr Dr. Reitze arbeiten mit dem größten professionellen Respekt zusammen. Das ist bei den Fernsehanstalten ja nicht immer so.

SPIEGEL ONLINE: Ist die Macht, die man als Fernsehspielchefin einer ARD-Anstalt besitzt, nicht manchmal auch gefährlich? Ihre NDR-Kollegin Doris J. Heinze hat quasi einen eigenen Staat im Staat errichtet - bis ihre Betrugsfälle aufflogen.

Jessen: Das ist ein tragischer Fall. Ich will ihn nicht verharmlosen. Sie war eine exzellente Redakteurin, sie hat viele interessante Formate entwickelt und hatte einen guten Instinkt für erfolgreiches Programm. Es ging ihr nie ums große Geld. Für sie war das eher ein Spiel. Es war ihre Art, an den Machtspielen im Sender teilzunehmen. Darauf hätte sie sich nicht einlassen sollen. Wie gesagt, ich lebe hier auf einer Insel der Glückseligkeit.

SPIEGEL ONLINE: Wenn Sie schon keinen Ärger von Ihren Vorgesetzten kriegen, steigen Ihnen denn nicht wenigstens Frankfurts Stadtväter aufs Dach?

Jessen: Worüber sollten die denn Ihrer Meinung nach meckern?

SPIEGEL ONLINE: In den "Tatorten", die sie in den vergangenen zehn Jahren mit Andrea Sawatzki und Jörg Schüttauf gedreht haben, wurde ja nicht gerade Werbung für die Stadt gemacht. Das Böse in den Bankentürmen, das Elend des Bahnhofsviertels, die Abgründe in den Reihenhäusern mit ihren S/M-Kellern - negativer kann man eine Stadt kaum darstellen.

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"Tatort" Frankfurt: Abschied von Sänger und Dellwo

Foto: Werner Baum/ picture-alliance/ dpa

Jessen: Da haben Sie wohl recht. Ich bin übrigens froh, dass Sie das mit den Reihenhäusern sagen: Das sind für mich fiktionale Brutstätten der Angst. Vorne rechts die Gästetoilette und links die Küche, hinten durch das Wohn- und Esszimmer: Da könnte der Schrecken einen Anfang nehmen, der dann im Keller ausgelebt wird.

SPIEGEL ONLINE: Wie kam es denn nach dem Ende der Zusammenarbeit mit Sawatzki und Schüttauf zur Zusammenarbeit mit Kunzendorf und Król?

Jessen: Wir hatten das Team schon zusammen, als wir bekanntgaben, dass wir uns von Schüttauf und Sawatzki trennen. Es war ja erstaunlich, was da alles in den Zeitungen zusammenspekuliert wurde! Wir hatten Król und Kunzendorf zuvor in einem demokratischen Prozess zu den Nachfolgern bestimmt. Egal ob Praktikant, Sekretärin oder Redakteur - bei solchen Entscheidungen habe ich gerne alle dabei. In dem Fall habe ich gesagt: Ihr kommt bitte alle nächste Woche mit Fotos von euren fünf Lieblingsschauspielern in mein Büro. Dann sind wir nach dem Ausschlussprinzip vorgegangen. Dann waren das von 80 nicht mal mehr 40.

SPIEGEL ONLINE: Basisdemokratie ist super, aber Sie wollen uns doch nicht erzählen, dass man beim HR auf diese Weise wichtige Entscheidungen trifft?

Jessen: Moment, es geht ja weiter. Unter den verbliebenen Kandidaten war auch Król. Ich kenne ihn, seit ich für das ZDF 1993 Tom Tykwers "Tödliche Maria" betreut habe. Er wurde oft unterschätzt und spielte in Filmen mit, die oft nicht seinem Können entsprechen.

SPIEGEL ONLINE: So wie die ZDF-Krimi-Reihe "Lutter", von der sie ihn abgeworben haben?

Jessen: Die Serie war stark gestartet, wurde dann aber diesem guten Anfang nicht mehr gerecht. Nur damit kein Missverständnis entsteht: Ich habe Król ein offenes Angebot gemacht - und ihn gebeten, es mit seinem ZDF-Team zu besprechen. Ich hätte an deren Stelle versucht, ihn mit allen Mitteln zu halten.

SPIEGEL ONLINE: Mit Sawatzki und Schüttauf soll es öfter mal Stress am Set gegeben haben. Harmonieren denn nun Król und Kunzendorf besser miteinander?

Jessen: Es war ein spannender Start. Wir haben für diesen "Tatort" fast chronologisch gedreht. Das heißt: Die Szenen, in denen sich die beiden Ermittler kennenlernen und behakeln, entsprechen dem wirklichen Verhältnis der Schauspieler zueinander, die sind hier zum ersten Mal richtig aufeinandergetroffen. Inzwischen lieben sie sich. Król ist hin und weg von Kunzendorfs Ausstrahlung.

SPIEGEL ONLINE: Nun ist Nina Kunzendorf als Hauptkommissarin mit aufgeknöpfter Bluse und künstlichen roten Fingernägeln ja auch extrem sexy in Szene gesetzt - bewusst?

Jessen: Na klar. Meine Sehnsucht war, in einem "Tatort" auch mal einen richtigen, sinnlichen Menschen zu haben. Ich finde, Frau Kunzendorf ist eine extrem anziehende Frau! Aber es ist eben keine Erotik, die einen verängstigt oder erschlägt. Es ist eine Erotik, die eher heiter stimmt. Also ein Anklang an "Erin Brockovich" mit Julia Roberts.

SPIEGEL ONLINE: Schöner Mann, kauzige Frau - das wäre als Kombination nicht gegangen?

Jessen: Doch doch, von mir aus immer. Ursprünglich habe ich zu meiner Redaktion tatsächlich gesagt: Wir sind von so vielen unauffälligen Männern umgeben, lasst uns doch mal einen richtig schönen Mann als Kommissar suchen. Aber es ist viel schwerer, einen richtig schönen Schauspieler in Deutschland zu finden, der auch richtig gut spielen kann.

Das Interview führte Christian Buß

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