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ARD-Drama: Nichts als die pure Gegenwart

Foto: Julia von Vietinghoff/ NDR

Existenzdrama mit Iris Berben Sie hat den Tod im Nacken und trinkt auf das Leben

Erinnerung wird überbewertet. Und Gegenwart unterschätzt: In "Hanne" spielt Iris Berben eine Frau, die nach einem beängstigenden Befund ins Jetzt eintaucht. Eine Liebeserklärung ans Leben.

Der Arzt in der Berliner Klinik empfängt sie mit bedeutungsvoll zerknautschter Stirn. Hanne (Iris Berben) wollte sich eigentlich nur die Krampfadern operieren lassen, nun geht es auf einmal um Leben und Tod: Es gebe da Unklarheiten nach der Voruntersuchung, bedenkliche Blutwerte, Verdacht auf Leukozytose, besser keine Sorgen machen, Montag weiß man mehr, erst mal das anstehende Wochenende genießen. Der Doc spult das ganze Beschwichtigungsprogramm ab, das so beiläufig alarmierend nur Ärzte beherrschen, für die das Sterben Alltag ist.

Eigentlich wollte Hanne doch nur ein bisschen ihr Leben aufhübschen, jetzt sitzt ihr auf einmal der Tod im Nacken. Nach ihrem letzten Tag als Chefsekretärin hatte sie einem Malermeister den Auftrag gegeben, die Wohnung in Wilhelmshaven frisch zu weißeln und war mit der Bahn nach Berlin aufgebrochen, um die Beine in Schuss zu bringen. Jetzt auf einmal der emotionale Ausnahmezustand - dem sich Hanne so ergeben ausliefert, als ahne sie, dass er irgendetwas für sie bereit hält.

Bei einem Italiener lernt Hanne die Dessous-Verkäuferin Uli (Petra Kleinert) kennen, mit der sie später noch in Spelunken Schnaps trinkt und zur Jukebox tanzt. Lassen wir uns nicht alle viel zu selten mit freundlichen Fremden in unbekannten Bars volllaufen? Das Leben ist ein Meer der Möglichkeiten, manchmal muss der Tod anklopfen, damit man das endlich kapiert.

Ängstlich, hungrig und bereit

Es ist so banal wie wahr: Todesangst und Lebenslust sind Geschwister. Und Hanne - 30 Jahre im selben Job, 20 Jahre in einer unglücklich zu Ende gegangenen Ehe - ist so ängstlich und so hungrig wie man nur sein kann. Der nach ihr benannte Film, geschrieben von Beate Langmaack ("Guten Morgen, Herr Grothe") , inszeniert von Dominik Graf ("Die Sieger"), folgt ganz den Regeln der großen Dramen über verlorene Wochenenden und zurückeroberte Leben. Und geht noch ein bisschen weiter.

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ARD-Drama: Nichts als die pure Gegenwart

Foto: Julia von Vietinghoff/ NDR

Als lockere Orientierung diente den Filmemachern Agnes Vardas "Cleo - Mittwoch zwischen 5 und 7", ein Klassiker der Nouvelle Vague. Langmaack und Graf übernehmen Rhythmus und Tonalität von Vardas Film; sie folgen ihrer Titelheldin, die sich durch die Stunden der Ungewissheit treiben lässt, ohne diese in theatralische Wer-bin-ich-wer-war-ich?-Selbstbefragungen verfallen zu lassen.

Die Stadt, der Lärm, die Menschen: "Hanne" entwickelt einen wunderbaren Sog. 48 Stunden privater Ausnahmezustand, das schafft eine Menge Raum, um Dinge nachzuholen und abzuhaken, die sonst nicht ins enge Selbstbild oder den engen Zeitplan zu passen scheinen. Kraulen lernen? Check! Hanne geht verkatert ins Hallenbad und lässt sich von einem freundlichen Muskelmann anleiten. Noch einmal mit dem Ex-Lover schlafen? Check! Hanne besucht Heiner (Herbert Knaup), den Freund aus Studienzeiten, und verbringt die Nacht mit ihm.

Ein Film über pure Gegenwart

Das ist die vielleicht stärkste Szene: Wie die beiden gemeinsam in die Vergangenheit abtauchen, um dann festzustellen, dass sie ganz unterschiedliche Bilder davon im Kopf haben. Heiner hält Hanne nämlich für die Ex-Flamme, die politisch hart drauf war und immer sexy Reden schwang. Aber Hanne muss ihn da leider enttäuschen: Sie sei eigentlich immer sehr strebsam und wenig politisch gewesen, er verwechsle sie da.

Dass Hanne nach dieser eher unromantischen Aufwärmphase doch noch mit dem sympathisch senilen Ex die Nacht verbringt, wird hier weniger als Folge der Todesverzweiflung inszeniert, sondern als Folge des Im-Leben-Stehens: Wer wir in der Rückschau von anderen sind, ist doch eigentlich nicht von Bedeutung. Je mehr wir bei uns selbst sind, desto großzügiger können wir den anderen ihre Erinnerung über uns lassen.

Erinnerung wird ja sowieso überbewertet. Und Gegenwart unterschätzt. "Hanne" aber ist ein Film über pure Gegenwart. Langmaack hat die Geschichte in kurzen Kapiteln angelegt, die ihre Kraft aus der unmittelbaren Situation ableiten. Graf treibt die Handlung in einem Rhythmus voran, der immer flott ist, aber niemals atemlos. Berben schaut mit ihrer Figur überrascht auf jede unerwartete Wendung, ohne diese sofort mit Bedeutung zu zähmen.

Es wird nicht, wie so oft in dem Genre des 48-Stunden-Selbstexperiments, der Fehler begangen, dass man die Heldin dazu führt, die Geschichte über sich selbst neu zu schreiben. Es gibt das direkte Erleben, aber keine höhere Erkenntnis.

Nach der durchzechten Nacht lässt sich Hanne eine Kiste Sprotten aufs Hotelzimmer kommen, weil Nordseekinder nun mal mit diesen eher nicht so delikaten Fischen ihren Kater füttern. Die Qualität von "Hanne" zeigt sich auch darin, dass man nach dieser Szene am liebsten gleich selbst eine Kiste Sprotten verdrücken will.


"Hanne", Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD

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