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"Keiner schiebt uns weg": Rote Cordhosen und rostiger R4

Foto: WDR/ Thomas Kost

Ruhrpott-Sozialkomödie in der ARD Dat muss gerechter werden!

Warum bekommen Männer für dieselbe Arbeit das Fünffache? Fragen sich im Gelsenkirchen des Jahres 1978 die Frauen. In "Keiner schiebt uns weg" wird aus dem Arbeitskampf eine mitreißende Sozialkomödie.

In welches Jahrzehnt bundesrepublikanischer Geschichte geht die filmische Zeitreise, wenn Mama rote Cordhosen mit Schlag trägt, am Frühstückstisch Zigaretten quarzt und fluchend ihren liegengebliebenen R4 anschieben muss? Die Siebziger, klar. Und in welche Region geht es, wenn die Kollegen mit "dat" und "wat" um sich werfen und Sprüche klopfen wie: "Hau ma die Hacken in' Teer, wir sind spät dran"? Tief in den Westen, logisch.

"Keiner schiebt uns weg" spielt in Gelsenkirchen im Jahr 1978. So hemdsärmelig-leutselig wie der Zungenschlag seiner Protagonisten kommt auch der saftig inszenierte Vorspann daher und transportiert den Zuschauer im Handumdrehen an Zeit und Ort seiner Geschichte. Frauen in weißen Kitteln ziehen Familienschnappschüsse aus riesigen Maschinen und stecken sie in Umschläge. War noch nix mit Digitalfotografie damals.

Viel Energie verwendet der Film auf das Zeit- und Lokalkolorit. Nur um sich dann beharrlich zu weigern, auch brav in seiner historischen und geografischen Ecke zu bleiben. Was ganz einfach daran liegt, dass das zentrale Problem, um das er sich dreht, auch in der Gegenwart nicht gelöst ist. Es geht um die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen. Deshalb läuft "Keiner schiebt uns weg", wie auch schon der Rostocker "Polizeiruf" am Sonntag, in der ARD-Themenwoche "Gerechtigkeit".

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"Keiner schiebt uns weg": Rote Cordhosen und rostiger R4

Foto: WDR/ Thomas Kost

Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit: 1978 zogen 29 Angestellte eines Foto-Großlabors in Gelsenkirchen vor Gericht, um mit gewerkschaftlicher Unterstützung eine Gleichbehandlung mit ihren männlichen Kollegen einzuklagen. Sie wurden bundesweit bekannt als die "Heinze-Frauen". Heute ist ihre Geschichte weitgehend vergessen.

Bloß nicht kuschen!

In "Keiner schiebt uns weg" wird daraus eine mitreißende Sozialkomödie mit Alwara Höfels in einer ihre schönsten Rollen. Dass sie auch im wahren Leben nicht vor Vorgesetzten kuscht, zeigt ihre Kündigung als "Tatort"-Kommissarin beim MDR. Nun rauscht sie als Fotolaborantin Lilli Czipkowski wie eine Naturgewalt auf die Mattscheibe.

Lilli kommt zufällig dahinter, dass ihr Freund Kalle, Vater ihrer beiden Kinder, mehr als das Fünffache an Zuschlägen einstreicht als sie selbst. Dabei hatte sie ihm nach einer Kündigungswelle bei der Zeche den Job erst verschafft und ihn eingearbeitet! Und dann meint ihre Mutter auch noch: "Der Wert einer Frau macht sich an anderen Dingen fest." Aber nicht mit Lilli. In ihren Kolleginnen Gerda (Imogen Kogge) und Rosi (Katharina Marie Schubert) findet sie zwei Mitstreiterinnen. Und Betriebsrat Ritschi (Christoph Bach) sieht gute Chancen für eine Klage vor dem Arbeitsgericht. Schließlich ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Grundgesetz festgeschrieben.

Das Schöne an "Keiner schiebt uns weg" ist, dass das Drehbuch (Sebastian Orlac, Ulla Ziemann) den konkreten Fall zum Anlass nimmt, einen Ausschnitt der bundesdeutschen Gesellschaft in seiner ganzen disparaten Ausprägung zu zeigen. Im proletarisch, sozialdemokratisch und städtisch geprägten Milieu des Ruhrgebiets arbeiten Frauen jetzt zwar - wenn auch manchmal immer noch heimlich, wie Rosi. Althergebrachte patriarchalische Strukturen bleiben aber weitgehend unangetastet. Männer tragen das Haar lang, aber auf die Frage danach, wer den Einkauf macht und das Bad putzt, gibt es keine zwei Antworten.

Wir sind der Pott

Der österreichische Regisseur Wolfgang Murnberger, bekannt für seine Wolf-Haas-Verfilmungen wie "Das ewige Leben", inszeniert detailgenau. Hier stimmt alles, vom braunen Steingut-Zuckertopf auf dem Tisch bis zum knallroten "Mr. Hit"-Plattenspieler. Noch wichtiger ist aber, dass Murnberger die spezifische Ruhrpott-Stimmung nach den ersten Arbeitskämpfen der Zeit erspürt, irgendwo zwischen verzagter Melancholie, verletztem Stolz und angestachelter "Wir sind der Pott"-Renitenz.

"Unter den Nägeln noch der Kohlenstaub, so kam er von der Arbeit nach Haus", heißt es in einem alten Bergarbeiterlied, das auf der Tonspur zu hören ist, aber diese Malocher-Romantik stimmt auch 1978 schon nicht mehr. Dass Kalle jetzt in einem Fotolabor arbeiten muss, ist eine Demütigung.

Von einer sich grundlegend wandelnden Arbeitswelt erzählt "Keiner schiebt uns weg", und dass der Film die aktuellen Debatten um den Gender Pay Gap zurückführt an seine Wurzel, ist sein größtes Verdienst. Seinen Titel leiht er sich von einem Schlager der damaligen Arbeiterbewegung, und er öffnet die Augen für die Geschichtlichkeit der durch #MeToo neu befeuerten Standortbestimmungen des Verhältnisses von Mann und Frau.

"Keiner schiebt uns weg" weckt die Kampfeslust. Auch Dank einer Figur wie Lilli. Die steht auf der Bühne einer verrauchten Kneipe und beginnt eine Rede, stockend und leise erst, dann immer selbstbewusster und lauter, und schließlich erwächst daraus ein mitreißender Filmmoment. Aufgeben is nich. Gibt ja noch genuch zu tun, ne?


"Keiner schiebt uns weg". ARD, 14. November, 20.15 Uhr

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