»Krieg und Frieden«, das größte Film-Epos der Kinogeschichte Der Höhepunkt filmischen Größenwahns

Glanz und Elend des 19. Jahrhunderts: Ljudmila Saweljewa als Natascha in »Krieg und Frieden«
Foto:Bildstörung
Werden die Kinos überleben? Oder streamen wir in Zukunft nur noch? Was machen die neuen digitalen Möglichkeiten aus der Filmkunst? Und was macht das immer weiter wachsende Angebot mit uns, den Zuschauern? Diese Fragen lassen sich heute immer noch nicht seriös beantworten. Klar ist aber schon jetzt: Streaming macht Filme noch stärker zu einem Konsumgut, zur ständig verfügbaren Massenware. Dabei kann eine neue Vielfalt entstehen, aber wahrscheinlich ist, dass auch viel verloren gehen wird.
Vor allem die Filmgeschichte wird es schwerer haben als ohnehin schon, sich gegen den Druck des Aktuellen zu behaupten. Dabei lassen sich dort Schätze heben, die die Augen öffnen und deren Strahlkraft bis in die Gegenwart leuchtet. Ein solcher singulärer Schatz ist die sowjetische Verfilmung von Leo Tolstois Opus Magnum »Krieg und Frieden« um Napoleons Russlandfeldzug. Eine zutiefst beglückende Erinnerung an die Schauwerte und die emotionale Strahlkraft einer Film-Epoche, die schon lange vor dem Siegeszug der Streamingdienste unterging.

Schlachtengemälde: Hinter dem Ornament der Masse ist immer der einzelne Mensch zu sehen
Foto: BildstörungMan kann diesem Film nun in einer liebevoll restaurierten Fassung wiederbegegnen. Die erschien schon 2019 in den USA; dass es zwei Jahre gedauert hat, bis sie auch hierzulande angekommen ist, sagt viel über den Stellenwert von Filmkunst in Deutschland. Bei einem Streamingdienst ist sie allerdings nicht zu bekommen. Wer »Krieg und Frieden« sehen will, benötigt altmodisch anmutendes Gerät: einen DVD- oder Blu-ray-Player. Für Cineasten ist das nichts Besonderes, Filmgeschichte wird bis heute auf diesem Weg am Leben gehalten, weil sie für die großen Konzerne ein untergeordnetes wirtschaftliches Potenzial hat und auf den großen Plattformen so gut wie nicht stattfindet.
Also Player abstauben, Disc reinschieben und bereit machen für mehr als sieben Stunden im Russland des 19. Jahrhunderts. Bombast-Binging der Extraklasse. Dabei bitte die Ouvertüre NICHT überspringen – es hat seine Richtigkeit, dass der Bildschirm mehr als zwei Minuten lang schwarz bleibt, während symphonische Musik erklingt. Diese Art der Einstimmung war gute Tradition bei den wirklich großen Monumentalfilmen, von denen »Krieg und Frieden« mit riesigem Abstand der Größte ist. Ein Koloss, allerdings einer mit zarter Seele.
Die Filmversion von »Krieg und Frieden« von 1966/67: 432 Minuten lang, mit 700 Millionen Dollar der um ein Vielfaches teuerste Film aller Zeiten (an die Inflation angeglichen und geschätzt, das genaue Budget lässt sich nicht mehr ermitteln), gedreht mit mindestens 12.000 Komparsen (Soldaten der russischen Armee) und inszeniert von Sergej Bondartschuk unter Einsatz seines Lebens – der bei Jobantritt 40-Jährige erlitt während der fünf Jahre währenden Dreharbeiten zwei Herzanfälle und musste beide Male wiederbelebt werden.
Kein noch so verrückter Hollywood-Produzent hätte ein solches Projekt durchboxen können. Das Gelingen dieses Höhepunktes filmischen Größenwahns war vielmehr Staatsräson: Die Sowjetunion wollte die Hollywood-Version von »Krieg und Frieden« mit Henry Fonda und Audrey Hepburn von 1956 übertrumpfen. Dafür machte die Regierung alle finanziellen und logistischen Mittel frei.

Filmischer Größenwahn als Staatsräson: Szene aus »Krieg und Frieden«
Foto: BildstörungDass dabei tatsächlich lebendige Kunst entstand und keine tote Propaganda, ist die schönste Überraschung an diesem Film. »Krieg und Frieden«, entstanden inmitten des Kalten Kriegs und in Erinnerung an die blutigen Kämpfe des Zweiten Weltkriegs, ist imposantes Gemälde der Schlachten bei Schöngrabern, Austerlitz und Borodino und intime Charakterstudie zugleich. Trotz des allgegenwärtigen Bombasts macht sich Bondartschuk eher auf die Suche nach Seelenlandschaften denn nach Schauwerten: Wie zeigen sich die Verheerungen, die der Krieg, die Liebe und der Zwang zur Repräsentation im Innersten von Menschen hinterlassen?
Zu sehen sind mit Pulverdampf und eindrucksvollen Massen-Choreografien in Szene gesetzte Schlachtenszenen sowie ungeheuer prunkvolle Bälle und Soireen der Moskauer und St. Petersburger Gesellschaften. Beides bleibt nie Selbstzweck, sondern lässt hinter den Marschformationen und Masken den einzelnen Menschen in seinem sozialen Gefüge hervortreten.
Antiquiert und modern zugleich
Manchmal hat man das Gefühl, Bondartschuk schwebe seine Kamera davon, so exzessiv setzt er Luftaufnahmen ein. Überhaupt wirken große Teile dieses Films leichtfüßig und verspielt; durch schnellen Schnitt, unvermittelte Nahaufnahmen, Handkamera und verfremdende Farbgebung unterläuft er die Erwartungen an einen klassischen Monumentalschinken. So wirkt »Krieg und Frieden« auf beeindruckende Weise antiquiert und modern zugleich.
Vor allem ordnet, wer diesen Film gesehen hat, die Monumentalfilme unserer Zeit, also die unvermeidlichen Blockbuster mit ihren Superhelden, Monstern oder Katastrophen, neu ein. Allem Werbe-Getöse zum Trotz: Der größte Film aller Zeiten ist längst abgedreht.