Animationsfilm »Luck« und das Comeback von John Lasseter Welt, lass dich um umarmen!

Szene aus »Luck«: Mädchen und Kater im Land des Glücks
Foto: Apple TVDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
»Vom Visionär hinter ›Toy Story‹ und ›Cars‹«, heißt es im Trailer zu »Luck«, dem ersten Langfilm der Animationsabteilung von Skydance Media, der nun bei Apple TV+ anläuft. »Luck« wird also bewusst als das Comeback von John Lasseter vermarktet, dem Mann, der wegen seiner kommerziellen wie künstlerischen Triumphe bei Pixar als »Vater des modernen Animationskinos« bezeichnet wird. Dem es sogar gelang, Walt Disneys Animationsstudio wieder in die Spur und zu Erfolgen wie »Die Eiskönigin« zu führen.
Doch John Lasseter stürzte im November 2017 im Zuge der #MeToo-Bewegung über sein Verhalten Frauen gegenüber. Nachdem Vorwürfe von unangemessenen Berührungen laut geworden waren, ging Lasseter zunächst in ein halbjähriges Sabbatical und verließ den Walt-Disney-Konzern schließlich komplett.
Im Januar 2019 wurde Lasseters neuer Job verkündet. Er werde Leiter der noch jungen Animationsabteilung von Skydance, dem Produktionsstudio von David Ellison, dem Sohn des Oracle-Gründers Larry Ellison. Skydance produzierte unter anderem die »Mission: Impossible«-Filme und zuletzt »Top Gun Maverick«, doch Animationsfilm ist dort Neuland. Ein neues Studio aufbauen mit Techgeld im Hintergrund: Das musste Lasseter locken, erinnerte es doch an die legendären Anfänge von Pixar, das seinerzeit unter anderem von Apple-Gründer Steve Jobs finanziert wurde.

Ex-Pixar-Chef John Lasseter: Kreativer im Hawaiihemd
Foto: Jason LaVeris / FilmMagic / Getty ImagesJohn Lasseters Vergangenheit am Arbeitsplatz bei Disney ließ Skydance nach eigener Aussage von einem Anwaltsteam erforschen. Ergebnis: Der Mann sei anstellbar. Zum Beispiel habe es keine Vergleichszahlungen gegeben. Unbestritten ist, dass niemand Lasseter Vergehen vom Ausmaß eines Harvey Weinstein vorwirft, der wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung verurteilt wurde. Doch in Presseartikeln war die Rede von »Grabschen, Küssen und Kommentaren über Körpermerkmale«, die Unternehmenskultur sei unter ihm für Frauen nicht förderlich gewesen. Das Image vom Hawaiihemden tragenden Kreativen, der jeden und jede stets umarmt, war jedenfalls beschädigt – nicht jede Umarmung des Chefs war erwünscht und angemessen.
Weltanschauliche Erbauung
Das erste große Projekt bei Skydance Animation, für das Lasseter verantwortlich zeichnet, ist »Luck«, ein Film über ein Mädchen, das immerzu Pech hat und durch Zufall von einer anderen Welt erfährt, wo Glück und Unglück hergestellt werden. Als eine seiner ersten Amtshandlungen tauschte er die Verantwortlichen für Regie und Drehbuch aus. Regisseurin Peggy Holmes hatte unter seiner Aufsicht zwei Disney-Feenfilme inszeniert, Drehbuchschreiberin Kiel Murray zählte zum Autorenteam von Lasseters Pixar-Hit »Cars« – zwei Frauen in prominenten Positionen, das war sicher auch als Statement gemeint, nachdem die Schauspielerin Emma Thompson ihre Mitarbeit an »Luck« wegen Lasseters Verpflichtung aufgekündigt hatte.
Auch Filmfiguren in »Luck« beschwören zuweilen den weiblichen Zusammenhalt. So sagt die Chefin der Glücksfabrik – ein Drache namens Babe, in der Originalfassung gesprochen von Jane Fonda – zu der menschlichen Protagonistin Sam: »Wir großen Frauen sollten zusammenhalten«, und stellt bedauernd fest, dass viele Kreaturen eingeschüchtert von hochgewachsenen Frauen seien.

Glücks-CEO Babe (links) mit Menschenkind Sam und der Katze Bob: Philosophieren über Spaltung und Zusammenhalt
Foto: Apple TVDoch zumeist wird in »Luck« über Glück und Pech philosophiert, auf etwas penetrante Weise wird so der Fortgang der Handlung zusammengefasst und vielleicht auch nach einer Moral des Films gesucht: Beide Seiten der Medaille bedingen einander. Spaltung, auch aus besten Beweggründen, schadet. Zusammenhalt ist wichtig. Solche Dinge eben, nun ja.
Aber man schaut sich ja lustige Animationsfilme nicht zuvorderst zur weltanschaulichen Erbauung an. Und insbesondere die Einstiegsviertelstunde, in der Sam als ewiger Pechvogel eingeführt wird, ist in ihrem Tempo, ihrer visuellen Pointendichte, ihrer Detailfreude herausragend. Wie ein Marmeladentoast als Symbol für Glück und Pech durchbuchstabiert wird. Wie ein Gartenbaumarkt, eine Liegeradfahrerkolonne und ein Paketbote unsere Gegenwart signalisieren. Hier erkennt man schon die Handschrift des Meisters aus Pixar-Tagen.
Später gerät Sam zufällig auf den Planeten, auf dem Glück und Unglück produziert werden. Beide Seiten dieser Welt sind äußerst liebevoll imaginiert. Auf der Glückshälfte herrscht die Farbe Grün vor, hier werkeln Häschen, Glücksschweine und irische Kobolde mithilfe von vierblättrigen Kleeblättern und Glückspfennigen mit traumwandlerischer Sicherheit an der Glücksproduktion – zumindest solange ihnen nicht die Pechmarie Sam in die Quere kommt. Seine Leute ausgiebig recherchieren zu lassen, gilt als Markenzeichen von Lasseters Arbeit – hier wurden Glückssymbole aus aller Welt zusammengetragen und unter anderem festgestellt, dass schwarze Katzen zumindest in Schottland als Glücksbringer gelten.
Lustiger aber sind das Unglück und das Missgeschick; das wussten ja schon die Stummfilmmacher, die ihre tragischen Schwarzweißhelden auf Bananenschalen ausrutschen ließen. Auch in »Luck« bietet die dunkle Hälfte, in der das Pech produziert wird, mehr Slapstick, mehr Lacher. Allein die verschiedenen Forschungsabteilungen, in denen Unglücksfälle mit Hundekacke erdacht werden, sind eine herrliche Idee.
»Nun, ich liebe Umarmungen«
Dass sich aus vielen vergnüglichen Einzelheiten trotzdem kein wirklich rundum beglückender Film ergibt, hat zum einen damit zu tun, dass er eine seiner philosophierenden Lektionen selbst nicht beherzigt. Sie solle sich nicht so viel bemühen, rät der schwarze Kater Bob der unglücklichen Sam. Das Glück komme von selbst. So richtig mühelos wirkt das Debüt des neuen Studios aber nicht, man spürt die Anstrengung, die Dinge an allen Ecken und Enden richtig machen zu wollen.
Umso seltsamer, wie mit dem Elefanten im Raum umgegangen wird: Ausgerechnet das Umarmen, über das John Lasseter bei Disney stolperte, wird als Motiv eingebaut. Zu Anfang erklärt Sam einem anderen Waisenkind, wie sehr sie Umarmungen liebt. »Ich weiß«, antwortet dieses. Könnte man das noch als augenzwinkernde Anspielung ansehen, wird die Sache befremdlicher, wenn in der Mitte des Films Sam zu Kater Bob sagt: »Ich könnte dich umarmen« und dieser antwortet »Katzen sind keine großen Umarmer«, worauf Sam trotzig beharrt: »Nun, ich liebe Umarmungen«. Dafür ist es gegen Ende des Films Bob, der sich zu einer Umarmung überwindet.
Das Umarmen als Symbol für den Zusammenhalt: In jedem anderen Kontext wäre das eine vollkommen harmlose Sache. Mit John Lasseters Vorgeschichte und dem Wissen, wie eng er seine Produktionen in der Regel kontrolliert, bleibt hier ein unerwünschter Beigeschmack.
»Luck«, von Freitag, 5. August, an bei Apple TV+