Martin Schulz bei Anne Will Alles astrein menschlich

Martin Schulz bei Anne Will
Foto: NDR/ Wolfgang BorrsDer Höllenritt hat begonnen. Im Herbst will Martin Schulz die Bundestagswahlen für die SPD gewinnen, am Sonntagnachmittag hat er sich erstmals seinen Parteifreunden im Willy-Brandt-Haus als Kandidat präsentiert, danach war er für 20 Minuten im ZDF-"Was nun, ...?"-Kreuzverhör, und am Abend folgte die nächste Herausforderung: Der Einzelauftritt in der Talkshow von Anne Will im Ersten nach dem "Tatort", dem publikumsstärksten Mitteilungsforum für die großen politischen Fragen unseres Landes. Keine leichte Aufgabe.
Um nicht gleich zu Beginn seiner Kampagne den Pesthauch absoluter Chancenlosigkeit zu verströmen, musste Schulz die drei großen Fragen der Zuschauer zumindest perspektivisch zu seinen Gunsten entscheiden. Erstens: Ist er der bessere Sigmar Gabriel? Zweitens: Ist er die bessere Angela Merkel? Und drittens: Ist "Anne Will" gerade die interessantere Sendung als "Ich bin ein Star - holt mich hier raus! Das große Wiedersehen" parallel auf RTL?
Ginge es nur darum, zu entscheiden, ob Schulz ein geeigneterer Kanzlerkandidat ist als die beiden, die seine Partei in den vorherigen Wahlen ins Rennen geschickt hat, dann hätte er schnell gewonnen: Eindeutig volksnäher wirkt er als Frank-Walter Steinmeier, der als Kandidat so diplomatisch auftrat wie als Außenminister auf heikler Mission. Und zweifellos vermittelbarer den sogenannten Menschen scheint Schulz als Peer Steinbrück, dem man schnell anmerkte, dass er sich hinter dem Rednerpult wohler fühlte als in Bürgernähe. Aber ist Schulz nun der bessere Kandidat als Sigmar Gabriel, "gefühlt oder faktisch", wie Will es wissen wollte?
Stets zwei Antworten parat
Schulz verfügt jedenfalls über ein mindestens vergleichbares Ego: Er sei sowohl gefühlt als auch faktisch der bessere, ließ er Will und die Zuschauer wissen. Da hatte er bereits die obligatorische Ehrenerklärung für seinen "Freund Sigmar" abgegeben, dessen Verzicht eine große charakterliche Leistung gewesen sei. Der bisherige Vorsitzende pflegte zwar ähnlich wie Schulz eine klare, an die kleinen Leute gerichtete Sprache, sein Problem war dabei aber die unterschwellige Aggressivität, die stets in seiner Rede mitschwang. Einer, der sich ständig im Modus Vorwärtsverteidigung befindet, macht es den Leuten schwer, ihn zu mögen.
Das fällt bei Schulz leichter. Zu sagen, er habe auf jede Frage eine charmante Antwort, wäre falsch. Tatsächlich hatte er bei Will auf die meisten Fragen sogar zwei Antworten: eine lustige kurze, und dann, nach den heiteren Lachern des Publikums und einem verbindlichen Schmunzeln der Moderatorin, noch eine ernsthafte, ausführliche.
Regierungserfahrung? Hatte Obama auch nicht, haha. Aber im Ernst: In elf Jahren im Rathaus von Würselen habe er alle Alltagssorgen mitbekommen, und die seien doch viel wichtiger als Debatten im Bundestag. Die SPD schwach in den Umfragen? Seit er ausgerufen ist, lege die Partei doch zu, wenn das so weitergehe, dann mache er sich um den Wahlausgang keine Sorgen, höhö. Aber im Ernst: Die SPD kämpfe für die hart arbeitende Bevölkerung, für bessere Löhne, sichere Jobs, gegen Gesetzesbrecher, seien es nun Steuerhinterzieher oder Grapscher auf einem Bahnhofsvorplatz. Und immer wieder: für Respekt.
Sozialdemokratische Quantenphysik
Da saß einer, der mit jedem Wort und betont aufrichtig um Vertrauen warb, aber gleichzeitig nicht vergaß, dass man auch mal einen Scherz machen muss. Einer, der Ehrgeiz verströmte, aber am Ende sogar nachdenklich zugab, Angst vor einer Niederlage zu haben. Kein Misston, kein Fehlgriff, alles astrein menschlich. Dafür gibt es nur zwei mögliche Erklärungen.
Entweder war am Sonntag bei Anne Will ein außerordentlich schlagfertiger Mann zu sehen, dem auf höchst überraschende Fragen der Moderatorin blitzschnell nicht nur ein Gag, sondern dazu noch eine sachbezogene Replik einfiel. Oder aber es wurde am Sonntag im Ersten endlich vor aller Augen enthüllt, was in den vergangenen Wochen im Inneren der SPD-Spitze vor sich gegangen sein muss: Während nämlich große Teile der Öffentlichkeit lange Zeit annahmen, in dieser uneinsehbaren sozialdemokratischen Blackbox würden - Schrödingers Katze nicht unähnlich - Gabriel und Schulz in einem nur Quantenphysikern verständlichen Zustand jeder für sich gleichzeitig als Kandidat und Nicht-Kandidat existieren, stand Schulz tatsächlich schon längst als Merkel-Herausforderer fest. Er brauchte nur noch etwas Coaching, um jede erdenkliche Interviewfrage zu antizipieren und in allen Antwortvariationen vorzubereiten.
Womöglich hat er sogar bereits seit Jahren jeden Auftritt bis zum Wahltag in Rede und Gegenrede durchgeplant, Zeit genug hatte er ja. Möglicherweise hat Martin Schulz aber tatsächlich so viel Spaß am Kandidieren und einen so ausgeprägten Willen zur Macht, wie es bei Will den Anschein hatte. So unwahrscheinlich das klingt: Dann hätte die SPD diesmal eine echte Chance.
Die offenen Flanken der Kanzlerin
Dass das Rennen offener ist als bei den vergangenen Wahlen, liegt dabei nicht nur an der Person Schulz, sondern mehr noch an den offenen Flanken, die die Amtsinhaberin erstmals bietet. Angela Merkels Schwäche ist die CSU, die sich bisher nicht dazu durchringen kann, die ehemalige Flüchtlingskanzlerin vollen Herzens zu unterstützen. Merkels Schwäche ist, auch das analysierte Schulz, die Tatsache, dass sie eigentlich sozialdemokratische Politik betreibt - Schulz wird nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass aber die SPD das Original ist. Und schließlich kann Schulz auch heikle Dinge in einer Deutlichkeit aussprechen, die sich einer Bundeskanzlerin verbietet, auch wenn sie genau so denken sollte: "Trump läuft mit der Abrissbirne durch unsere Grundwerteordnung", so ein Satz gehörte sich nicht für eine Amtsinhaberin. Für den Herausforderer hingegen ist er eine legitime, knackige Formulierung.
Die beste Merkel wird zwar immer Merkel bleiben - aber mehr kann sie nicht mehr bieten. Mit dem Satz "Sie kennen mich" hat sie die letzte Wahl gewonnen. Für manchen wird er diesmal wie eine Drohung klingen. Schulz jedoch, der noch ziemlich Unbekannte, verspricht Veränderung.
Womit wir zur Antwort auf die dritte große Frage des Abends kommen: Klar war der Will-Talk spannender als die traditionell langweilige und überflüssige Nachklappsendung zum Dschungelcamp. Im australischen Dickicht sind alle Maden geschluckt und der König ist gekürt. Für Martin Schulz jedoch hat die große Dschungelprüfung erst angefangen.
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