Jahresrückblick bei "Maybrit Illner" Gabriels Lässigkeit macht Stoiber ganz wild

Moderatorin Illner (3. v.l.) mit ihren Gästen
Foto: ZDF/Jule RoehrManchmal, nur manchmal ist zu erahnen, wie es im Inneren alter Politroboter plötzlich klick macht, wie da drinnen etwas ein- oder ausrastet und die Schutzschirme kurz runterfahren. Wie Leidenschaft ins Spiel kommt. Nun ist es bei "Maybrit Illner" passiert, und das ausgerechnet beim vermeintlich drögen Jahresrückblicksritual und der Frage, was "wir" 2017 alles verloren haben: "Vertrauen, Wahrheit, Sicherheit".
Von Anfang an und für beinahe 45 Minuten geht es um nichts anderes als die AfD und die Flüchtlingsfrage. ZDF-Chefredakteur Peter Frey findet beispielsweise, ins Parlament seien mit der AfD "Kräfte eingezogen, die vorher gefehlt haben". Melinda Crane, politische Chefkorrespondentin der Deutschen Welle, sieht strukturelle Parallelen zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Iowa - und entsprechende Korrelationen zwischen AfD- und Trump-Wählern. Beider Sorgen seien, so Crane, "klassische SPD-Themen".
Peter Frey: Die #GroKo wird eine Koalition mit geschwächtem Spitzenpersonal, und es zeichnet sich ab, dass es auch eine Koalition des Misstrauens sein wird. #KoKo #2017 #Jahresrückblick #illner
— maybrit illner (@maybritillner) December 14, 2017
So weit, so gediegen und wahr. Das eigentlich infernalische Trio läuft sich da erst allmählich warm. Es besteht aus Sigmar Gabriel (SPD), Edmund Stoiber (CSU) und Serdar Somuncu, Kabarettist und Kanzlerkandidat der Partei "Die Partei". Gabriel findet 2017 aus SPD-Perspektive nach kurzem Zögern "happig" und stellt fest, die AfD sei gewissermaßen früher auch schon im Parlament gewesen, und zwar in der Union.
Über den vergeigten Wahlkampf der SPD sagt Gabriel, dass Deutschland "eigentlich" nicht über Gerechtigkeit, sondern "über Stabilität nachgedacht" habe. Im Hinblick auf die künftige Regierung meint Somuncu, die SPD suche nun nach der Ehe "eine offene Zweierbeziehung". Im Hintergrund fahren SPD, CDU und CSU als Achterbahnwagen auf und ab.
Mit dem Hinweis, es sei "im Übrigen immer noch besser, keine Regierung zu haben als einen Präsidenten wie die USA", fährt Somuncu leichte und erleichterte Lacher ein. Stoiber stoibert: "Ja gut, ich mein, da muss man dann noch mal neu schauen, aber wir sind ja jetzt." Von seinem Duzfreund Gabriel vermisst der ehemalige bayerische Ministerpräsident ein "klareres Aufbäumen der SPD als frühere Partei der kleinen Leute".
Stoiber ist es "zu defätistisch", wie gerade über die Volksparteien in sich wandelnden Achterbahnzeiten geredet werde, auch von "Sigmar". Würde die SPD endlich den "Ordnungscharakter" des Staates akzeptieren, statt "nur abstrakt über die soziale Gerechtigkeit" zu reden, dann existiere mittelfristig eine "echte Chance", dass sich das Problem der rechten Neulinge erledige. Im Hintergrund zersplittert das blaue Logo der CSU nach rechts zur AfD.
Gabriels Lässigkeit ("Was sind wir fürn glückliches Land!") macht Stoiber ganz wild: "Diese Diskussion, die wir hier führen, diese Diskussion der Polyglotten, die Diskussion der Eliten, diese Diskussion der Erasmus-Generation", das kümmere jene Menschen nicht, die sich um ihre Wohnung, ihre Renten, die Pflege oder die Chancen ihrer Kinder sorgten. "Jetzt redet er sich in Rage", stellt Somuncu vergnügt fest.
Gabriel blafft in seltener Klarheit
Aber Gabriel lenkt ein: "Die Hitze dieser Auseinandersetzung, die Hitze dieser Integration, die spüren wir ja nicht in den gut klimatisierten Räumen der Politik, im Kabarett oder hier im Studio!" Nun ist es Illner, die sich auf den Schlips getreten fühlt ("Doch!"), aber da nimmt ihr Somuncu bereits die Moderation aus der Hand - und grillt im Alleingang den Außenminister.
Zunächst bescheinigt er Gabriel, jetzt, als Außenminister, eine "wesentlich entspanntere Ausstrahlung" als zu seiner Zeit als Vorsitzender der SPD zu haben (Gabriel: "Augen auf bei der Berufswahl!"). Dann will er wissen, warum die deutsche Regierung nicht hörbarer auf eine Freilassung von Deniz Yücel poche. Gabriel: "Es gibt kein Treffen mit der türkischen Regierung, bei der dieser Name nicht fällt!"
Da macht Somuncu den Rahmen weiter auf und fragt nach Geschäften mit China, beispielsweise, warum die Deutschen da keinen härteren Kurs führen. "Weil wir nicht nur Werte, sondern auch Interessen haben", auch wirtschaftliche, blafft Gabriel in seltener Klarheit zurück - fügt aber hinzu, "andere Länder" würden hinter verschlossenen Türen bereits klagen: "Müsst ihr unbedingt immer so schlechte Stimmung machen mit diesen Menschenrechten?"
.@sigmargabriel : Was mich in der deutschen Debatte total nervt, ist, dass wir immer mit dem hohen Ton der Moral und Werte kommen und verschweigen, dass wir Interessen haben. #2017 #Jahresrückblick #illner
— maybrit illner (@maybritillner) December 14, 2017
Zuletzt geht es um die europäischen Visionen von Emmanuel Macron, und hier ist Gabriel in seinem Element. Der französische Präsident bringe uns etwas Historisches bei, nämlich die einst "nach innen gegründete" Union als ein Gebilde zu denken, "das gemeinschaftlich nach außen handeln muss".
Allerdings: "Auch die Franzosen fanden unsere Flüchtlingspolitik schräg", stellt Gabriel fest und wirbt - bei aller Kritik - um Verständnis und "compassion" für problematische Staaten wie Polen oder Ungarn. "Statt mit dem Finger auf die zu zeigen", müsse man sich darüber "klar werden, warum andere in Europa anders denken als wir". Stoiber entzückt: "So! So! Genau so hättet ihr bei der Bundestagswahl mal die Diskussion führen müssen!" Gabriel, selig: "Wir beide hätten gegeneinander antreten sollen."
Als sich am Ende sogar Gabriel und Somuncu die Hand reichen, ist das beinahe schon wieder zu viel der Eintracht. Aber offenbar hat es auch hier klick gemacht.