Timur Vermes über "Mein Kampf" Unser Krampf

Warum diese panische Angst vor dem Buch? Timur Vermes, Autor der Hitler-Groteske "Er ist wieder da", plädiert für einen gelassenen Umgang mit "Mein Kampf". Nirgendwo offenbart und entlarvt sich der Nationalsozialismus so klar wie hier.
Hitler-Szene in "Er ist wieder da": Jetzt hört der Spaß auf

Hitler-Szene in "Er ist wieder da": Jetzt hört der Spaß auf

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Zur Person
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Timur Vermes, Jahrgang 1967, arbeitete viele Jahre als Journalist, unter anderem für die "Abendzeitung" und den Kölner "Express". Im September 2012 erschien sein Satire-Roman "Er ist wieder da", in dem er Adolf Hitler im Berlin der Gegenwart wiederauferstehen lässt. 2015 kam die Verfilmung des Romans in die Kinos.

Bei "Mein Kampf" hört der Spaß auf. Nicht wegen des Buches selbst, sondern wegen der idiotischen Weise, in der dieses Land mit dem Text umgeht. Und schlimmer noch, weil eine Menge Menschen bei diesem Thema Hitler sogar zuarbeiten.

Und da rede ich nicht von der AfD oder Pegida, da rede ich von rechtschaffenen Wissenschaftlern, israelfreundlichen CSU-Politikern, organisierten Juden, von Menschen also, die samt und sonders das Gegenteil wollen. Und die drauf und dran sind, die Chance, die in der Gemeinfreiheit von "Mein Kampf" liegt, mit Begeisterung in die Tonne zu treten. An dieser Situation hätte nur einer seine helle Freude: Hitler selbst.

Dabei wäre viel geholfen, wenn man das Ding überhaupt mal in die Hand nähme. Wer das Buch liest, versteht vieles besser, und damit ist nicht nur Hitlers Gedankenwelt gemeint, sondern auch die seit 70 Jahren praktizierte Schizophrenie um "Mein Kampf". Mein Lieblingsbeispiel: Würde irgendein KZ-Scherge sagen, er habe Tausende ermorden müssen, weil ihn "Mein Kampf" vergiftet habe, würden wir ihm den Vogel zeigen. Wenn Charlotte Knobloch behauptet, "Mein Kampf" würde die Jugend vergiften, sehen wir in demselben Unfug plötzlich ein seriöses Argument.

Um es klar zu sagen: Es gibt keine Zauberbücher. Auch "Mein Kampf" ist keines. Aber gegen Aberglauben hilft nur Bildung. Deshalb: Wenn Sie mitreden wollen, dann lesen Sie's. Sie haben das Recht dazu.

1. Warum Sie "Mein Kampf" lesen sollten

Weil das Buch Einblicke in die Funktionsweise des Nationalsozialismus ermöglicht, die es nirgends sonst gibt. Hitler offenbart sich, und das zugleich freiwillig und unfreiwillig.

Unfreiwillig zu erkennen gibt er sich dabei im Stil: zwischen Rührstück und professoralem Leserbrief. Da sucht einer die Anerkennung von jenen gebildeten Kreisen, die er sonst zu verachten vorgibt, und zwar, indem er sie mehr schlecht als recht nachahmt. Der großspurige Diktator als Arschkriecher des Bildungsbürgertums - wenn man es nicht selber liest, kann man kaum glauben, dass er sich diese Blöße 700 Seiten lang gegeben hat.

Völlig freiwillig hingegen offenbarte er seine Pläne. Das Buch enthüllt in atemberaubender Deutlichkeit die Vorhaben der Nazis. Das zu sehen, ist unverzichtbar, wenn man begreifen will, was im "Dritten Reich" eigentlich passiert ist: Krieg, Judenverfolgung und -mord, Diktatur, all das war Hitlers klares Angebot an die Deutschen. Und auch wenn sie nicht alles davon unbedingt so gewollt haben, wie es gekommen ist: Sie haben alles darin billigend in Kauf genommen. Genauso lässt sich der Beginn der nazideutschen Katastrophe verstehen: Man zieht nicht eines Tages los und beginnt einen Völkermord, sondern man schert sich einfach nicht darum, dass einer draus werden könnte.

2. Wie Sie "Mein Kampf" lesen sollten

Je mehr Vorwissen Sie haben, desto besser, aber lassen Sie sich nicht abschrecken: Das wichtigste Vorwissen haben Sie bereits. Anders als Hitlers Zeitgenossen wissen Sie, wie die Geschichte ausging. Sie wissen also: In diesem Buch müssen erhebliche Fehler sein. Sie können das Ganze auch als eine Art politisches Suchspiel betrachten, bei dem sicher ist: Wenn Sie keinen Fehler finden, haben Sie was falsch gemacht.

Zugegeben: Die Fehler sind gut versteckt, sie kommen als Scheinlogik daher und tarnen sich zwischen völlig logischen Passagen. Aber nochmal: Sie wissen, wie die Geschichte ausging. Und wenn Sie sich selbst nicht über den Weg trauen: Nehmen Sie ein Foto einer zerbombten deutschen Stadt als Buchzeichen und Gedächtnisstütze.

3. Welche Version von "Mein Kampf" Sie lesen sollten

Sie kriegen das Buch für knapp 20 Euro auf Deutsch, wenn Sie es in England bestellen. Aber: Am Ende verdient irgendein Naziverlag daran, das wollen Sie vermutlich nicht. Günstiger ist: in der eigenen Familie herumfragen. Sie werden staunen, wer es alles hat. Als ich mit "Er ist wieder da" fertig war, zeigte sich: Es steht bei meinem eigenen Onkel im Regal, von der Hochzeit seiner Eltern. In der Pressestelle meines Verlags sagten am ersten Tag spontan zwei Damen, ihre Eltern besäßen es ebenfalls.

Die schnellste Möglichkeit: Gehen Sie ins Internet, laden Sie sich's runter. Als pdf oder als E-Book. Das ist erlaubt, legal, kinderleicht zu finden, kostenlos.

Und die neue, vielbeachtete Edition des Instituts für Zeitgeschichte? Ich wurde spätestens dann skeptisch, als der Chef des Unternehmens, Christian Hartmann, in einer ARD-Reportage gut hörbar und bierernst seine Mitarbeiter ermahnte, die Editionen seien "für die Ewigkeit". Ein Historiker, Kenner des Vergangenen und Vergänglichen, glaubt, ausgerechnet er arbeite für die Ewigkeit? Aber okay: Wenn Hitler 1000 Jahre vorlegt, muss Hartmann natürlich einen draufsetzen. Seitdem aber ist es bereits in einem Fall richtig peinlich geworden.

Hartmann belegt seine unbestechliche Faktentreue damit, dass er auch Hitler großmütig Recht gibt, wenn der mal Recht hat. Sein selbst gewähltes Beispiel (im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" und Deutschlandfunk): In der Presselandschaft der Kaiserzeit seien die Juden überrepräsentiert gewesen. Hartmann stimmt zu und erläutert dann die historischen Gründe dafür.

Das ist derart haarsträubend, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll, es ihm um die Ohren zu hauen.

Denn seit wann hat irgendein Berufszweig die Bevölkerungsverhältnisse 1:1 abzubilden? Seit wann muss man rechtfertigen, dass irgendwo mehr von diesen und weniger von jenen arbeiten? Was hat überhaupt das Religionsbekenntnis mit der Qualität des Journalismus zu tun? Oder mit der Qualität von, sagen wir: Herrenhemden oder Malerarbeiten?

Das Schlimmste aber ist, dass Hartmann vor lauter Faktencheck-Besoffenheit nicht merkt, dass er gerade den Rassebegriff der Nazis abnickt. Denn wie Hitler seine Juden zählte, ist ja bekannt: Indem er sie zur "Rasse" ernannte. Und indem Hartmann ihm treudoof aufs Glatteis des Judenzählens folgt, schließt er sich ihm stillschweigend an, anstelle einfach zu sagen: Ob Jude oder Katholik ist beim Journalismus genauso egal wie beim Postboten - Hauptsache, der Brief kommt an.

4. Warum man Hitler in die Hände arbeitet, wenn man den Zugang zu "Mein Kampf" behindert

Wer "Mein Kampf" gelesen hat, weiß: Das Buch ist nicht zum Lesen gedacht. Hitler selbst wusste, dass seine Reden attraktiver waren als seine Schriften. Wer Millionen Menschen vergiften will, gibt ihnen das Gift auf einem Stück Würfelzucker, nicht auf einem Kilo Papier.

Der eigentliche Zweck des Buches ist: Hitler sortierte seine Gedanken. Und, noch viel wichtiger: Hitler wollte dadurch wirken wie ein großer Denker mit einem großen Plan, wie jemand, der ein richtiges Buch schreiben kann. "Mein Kampf" diente vor allem auch als potemkinsches Buch - es macht was her, solange man nicht zu genau hinsieht. Und wenn man nun das Genau-Hinsehen verhindert, dann bleibt genau das übrig, auf das es Hitler eigentlich ankam: die Wirkung eines teuflisch genialen Werks. Kurz: Wer verhindert, dass die Menschen das Buch selbst in die Hand nehmen, ist Hitlers bester Propagandahelfer und qualifiziert sich jederzeit für das Goldene Parteiabzeichen der NSDAP. Ehrenhalber.

5. Was man tun sollte, wenn man - etwa als Politiker - Angst vor "Mein Kampf" hat

Machen Sie sich klar, wovor Sie Angst haben: Nicht vor dem Text. Sondern davor, dass die Bevölkerung zustimmt. Also: Munitionieren Sie diese Bevölkerung endlich! Das geht. Und zwar nicht mit 2000 kommentierten Seiten. Sondern mit einer.

Auf der fasse man Hitlers Gedanken in zehn kurzen Sätzen zusammen (mehr sind's nicht).

Und dazu schreibe man je eine kurze Antwort, warum der Schluss ein Trugschluss ist.

Etwa so:

Hitler sagt:

Politik, der Kampf um Macht, ist ein Kampf zwischen "Rassen" - darum soll man die eigene "Rasse" zur stärksten hochzüchten.

Antwort:

Gestern war's der "Rassenkampf", heute ist's der Religionskampf, morgen ist es einer zwischen Android- und Apple-Handys. Jede Festlegung ist also falsch: Wer heute auf die Herrenrasse setzt, hat morgen das falsche Telefon.

Aber ich wage die Prognose: All das wird nicht passieren. Nicht in Deutschland. Das Land wird sich weiter vor der Einsicht verstecken wie Vierjährige vor einem Gewitter. Wir kuscheln uns unter die gemütliche Legende vom Monsterhitler mit dem Zauberbuch und rätseln, was wohl die Ungarn und Polen antreibt.

Und hier hört der Spaß auf.

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