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RTL-Jahresrückblick: Jauchs Marginalien-Polonaise

Foto: Sascha Steinbach/ Getty Images

Jahresrückblick mit Günther Jauch 2016 ist schlicht zu groß für eine Show

Kinder, Sportler, Regenwetter: Das war das Jahr 2016 - zumindest in der RTL-Version. Günther Jauch räumt Verkehrsblitzer-Heiratsanträgen mehr Platz ein als der Trump-Wahl. Ist das schlau oder dämlich?

Selten rangelten die Angst vor und die heimliche Sehnsucht nach einem gut gemachten Jahresrückblick so ausgeglichen miteinander wie in diesen Wochen. 2016 würde man sich so gerne wegerklärbären lassen wie kaum ein Jahr zuvor. Zuschauen, wie ein abgeklärter Fernsehmensch die vergangenen elf Monate beherzt in ein Drei-Stunden-Fernsehformat quetscht, um es verdaulich und verstaulich zu machen.

Leider aber ist 2016, nicht nur in der subjektiven Wahrnehmung, kein leicht wegzupackendes Jahr. Wie ein starrsinniges, sich mit allen Gliedmaßen sträubendes, leicht müffelndes Opossum wehrt es sich beherzt dagegen, in eine Showkiste gesteckt zu werden. Zu viel Verstörendes, Bestürzendes, auch durchweg Katastrophales ist passiert, noch unvereinbarer als in früheren Jahren: Welche Kiste, welche Show wäre groß genug, um gleichzeitig Platz für Flüchtlingskrise und das Lombardische Ehedramolett zu haben? Für gleich zwei überlebensgroße Männer, die in diesem Jahr durch ihre kompromisslos zugrabschende Art Karriere machten - Donald Trump (als Präsident) und Tim Wiese (als Wrestler)?

Zum Start was Unverfängliches

Günther Jauch nähert sich dieser Aufgabe in "Menschen, Bilder, Emotionen" erst einmal mit Unverfänglichem: Kinder, die bei einer Papst-Audienz im Papamobil mitfahren durften, nachdem sie Franziskus aus der Menge heraus zugewunken hatten. Naturgemäß haben sie viel mitzuteilen.

Jauch: Hättest du je gedacht, dass der Papst zurückwinkt?

Kind 1: Nö.

Jauch: Hast du auch gewunken, Charlotte?

Kind 2: Ja.

Dann kommt Turner Andreas Toba, der bei den Olympischen Spielen trotz Kreuzbandriss weiterturnte, um wichtige Punkte für sein Team zu sammeln. Ein feiner Zug von ihm, aber weil man halt doch einen echten Sieger braucht in so einer Sendung, kommt dann auch noch Fabian Hambüchen. Rein zufällig steht ein Reck bereit, rein zufällig hat Hambüchen seinen Turnanzug unter dem Anzug an. Es ist noch nicht einmal eine Stunde vergangen, da rettet man sich vor dem Fernseher schon in hirn-emigrative Szenarien wie die Fantasie, dass Hambüchen einfach standardmäßig IMMER Gummihose und -leibchen drunter trägt, für den Fall, dass es spontan was wegzuturnen gibt.

Hambüchen im TV-Studio

Hambüchen im TV-Studio

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Und nun: zu den wichtigen Themen

Nach Kindern und Turnen fühlt man sich als Zuschauer schließlich emotional und muskeltechnisch hinreichend aufgewärmt für die tatsächlich relevanten Themen des Jahres. Da spricht Jauch mutig auch schon eines der heftigsten an: das Wetter. "Ende Mai wollte der Regen ja gar nicht mehr aufhören", sagt er. Ganz bestimmt werden wir uns alle in ein paar Jahren an 2016 als "dieses grässliche Jahr, in dem das Wetter so scheiße war" erinnern.

Spätestens da muss man die Hoffnung aufgeben, dass dieser Abend etwas anderes sein könnte als eine Marginalien-Polonaise, unterbrochen von Sport- und Werbeeinblendungen. Ein schrulliger Brite tritt auf, der mal von Sheffield nach Essex reisen musste und statt des Zuges lieber fürs gleiche Geld die Billigfliegerroute über Berlin nahm, außerdem ein Mann, der durch mehrere Dutzend Radarfallen fuhr, um seiner Freundin einen Heiratsantrag per Blitzerfoto machen zu können. "Sie sind schon eine Umweltsau, gell?" fragt Jauch den Briten. Hihi, aber lustig findet man die Dreckspatzerei ja doch.

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Eine Puppenstube als Parallelweltchen zu 2016

Fast muss man die Chuzpe bewundern, mit der er sich in seiner Butzenscheiben-Gartenlaube verschanzt, während draußen die Welt in ihren Fugen knirscht. Jauch baut in "Menschen, Bilder, Emotionen" eine Puppenstube als Parallelweltchen zu 2016, eine zahme, zahnlose Version dieses Kloppers von einem Jahr, in der das Abdanken von Cindy von Marzahn ("Sie war laut, sie war frech") relevanter ist als Böhmermann vs. Erdogan, in der länger mit den Schauspielern einer Flüchtlingskomödie gesprochen wird als mit zwei Frauen, die in der Silvesternacht Opfer von sexuellen Übergriffen wurden.

Letztere Gäste werden eilig wieder hinauskomplimentiert, als eine von ihnen gerade anfing, über ihren "Ekel" vor "solchen Menschen" zu sprechen. Aber Elyas M'Barek soll sich bitte schön mal dafür rechtfertigen, dass er jetzt "vom Markt ist", was sicher ganz ganz viele Frauen betrübt.

Elyas M'Barek

Elyas M'Barek

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Dann kommt der abdankende CDU-Mann Wolfgang Bosbach, mit ihm wird über seine zerknautschte Aktentasche ausführlich gesprochen, Schnurzligkeiten wie der Aufschwung für die AfD moderationsseits in Nebensätzen weggenuschelt. Die Totenehrung verquarkt Andreas Gabalier mit "Amoi seg ma uns wieder", und man will wenigstens für ein paar Momente fest an die Existenz eines nachweltlichen Lebens glauben, um sich die Gesichter von David Bowie und Roger Willemsen vorzustellen, wenn ein Mann in kurzen Lederhosen an sie mit den Zeilen "Wenn des Bluat in deine Adern gfriert / Wie dei Herz aufhört zum schlogn und du aufi zu die Engerl fliagst" erinnert. Alan Rickman wird beim Verstorbenenrückblick vergessen, und fehlte Lemmy Kilmister nicht auch? Er starb zwar schon 2015, aber am 28. Dezember, also in der Limbus-Zeit, für die sich kein Jahresrückblick verantwortlich fühlt.

Aber gut, die Zeit, die Jauch beim superlustigen Wettkicken mit Toni Kroos und Klettband-beklebten Bällen zubrachte, muss irgendwie wieder reingeholt werden, schließlich will er später ja auch noch mit Angelique Kerber Bratpfannen-Tennis spielen. "Sinnliche Spiele und falsche Gefühle", würde Howard Carpendale das Spektakel eine Stunde später bei seinem großen Final-Medley noch einmal mit einer Liedzeile von "Ti amo" beschluchzen.

Angelique Kerber

Angelique Kerber

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2016, war was? Ach ja.

Brexit, Trump-Wahl, Aleppo in Trümmern, München-Amoklauf. Die Themen werden bei einer "Bilder des Jahres"-Collage mit je zwei Sätzen weggeknuspert, zusammen und gleich gewichtet mit der Hochzeit von Bastian Schweinsteiger und einem Hund, der in Bolivien versehentlich während eines Autorennens auf eine Rennstrecke spazierte. Zum Glück ist dem lieben Tier nichts passiert, puh!

Man wüsste aber doch ganz gern, wie kalt die Schnauze des Verantwortlichen ist, der direkt hinter die Blitzabfrühstückung des Nizza-Attentats die spaßige Meldung von den Bankräubern in Nebraska schnitt, deren Überfall vereitelt wurde, weil die Bank noch geschlossen hatte. Trottel, denkt man sich da mal übergreifend. Oder sollte das eine besonders perfide Realitäts-Dekonstruktionsperformance sein, für die man selbst nur zu dümmlich ist?

So wundert man sich wirklich nur noch ganz kurz, dass in einem Jahresrückblick nur Ereignisse Platz finden, die in Deutschland stattfanden oder an denen Deutsche beteiligt waren. Wie sang es Mark Foster eben gleich noch? "Die Welt ist klein, und wir sind groß." Und Naturkatastrophen eben nur interessant, wenn sie sich in Baden-Württemberg abspielen: "Ich hab gesehe, wie dr Bach uff de Marktplatz roigeschlage is."

Apropos Katastrophen: Das lombardische Ehe-Aus kam sonderbarer Weise nicht vor, obwohl RTL2 Sarah und Pietro aktuell recht unverdrossen als "DAS einstige Traumpaar des deutschen Fernsehens" bebimmelt. Vielleicht kann man sich da senderintern noch mal koordinieren.

Im harmlosesten Fall erinnern Fernseh-Jahresrückschauen an die taktvollen, aber interessenlosen Weihnachtsbesuchsplappereien mit Verwandten, die gesundheitlich nicht mehr ganz auf der Höhe sind. Man hakt da nicht so nach, man spricht nur harmlose Dinge an, man will niemanden aufregen. Vielleicht werden die Jahre langsam wirklich zu komplex, zu voll, um überhaupt noch Jahresrückblicke in dieser Form veranstalten zu können. Ziemlich sicher wäre es jedenfalls wirklich besser, gar nicht erst zu versuchen, 2016 in einer Kiste zu verstauen. Vielleicht werfen wir einfach ein großes Laken über das unförmige, verdellte Ungetüm - jeder ganz für sich.

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