Netflix-Doku über die Wiedervereinigung Vom Riss, der nie verheilte

Treuhand-Vize Hero Brahms
Foto: NetflixWenn das Leben schon so verdammt kompliziert ist, sollen wenigstens Erzählungen einfach sein. Menschen lieben Geschichten, die ein geschlossenes Bild der Welt zeichnen, offene Enden oder Leerstellen führen leicht zu Unbehagen. Der bis heute nicht aufgeklärte Mord an Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder am 1. April 1991 ist eine der größten Leerstellen in der Erzählung der deutschen Wiedervereinigung.
Bahnbrechend neue Erkenntnisse sind nicht zu erwarten, wenn Netflix jetzt mit "Rohwedder - Einigkeit und Mord und Freiheit" seine erste in Deutschland produzierte Doku-Reihe präsentiert. Diverse Sachbücher, Krimis und TV-Produktionen umkreisten den Fall schon, die Spur der Täter hat sich endgültig im Dunkel der Geschichte verloren.

Detlev Karsten Rohwedder schwebte 1991 in ständiger Gefahr, ihm schlug offener Hass entgegen. Trotzdem wurde er nur unzureichend geschützt.
Foto: NetflixIm Vierteiler nennt einer der beteiligten Ermittlungsbeamten die Tat ein "perfektes Verbrechen". Möglich, dass Netflix sich deshalb für den Fall interessierte. Der Streaming-Konzern hat einige sogenannte True-Crime-Formate im Programm, in denen es um wahre Verbrechen geht.
"Rohwedder" funktioniert dramaturgisch an vielen Stellen wie eine dieser Miniserien: Die Macher Jan Peter, Georg Tschurtschenthaler und Christian Beetz arbeiten mit einer Mischung aus faktischem Vakuum und Erklärungsfuror.
Sie verfolgen drei verschiedene Täter-Theorien: Gemeinhin wird die dritte Generation der RAF für die Tat verantwortlich gemacht, die in diesem Zeitraum mehrere Morde verübte. Einige Ermittler sind dagegen davon überzeugt, dass nur ehemalige Stasi-Angehörige in der Lage gewesen wären, präzise Schüsse aus großer Distanz abzugeben. Oder ein von mächtigen westdeutschen Hintermännern engagiertes Killer-Kommando.
Wirklich aufsehenerregend ist aber, wie die Macher diese zum größten Teil schon lange bekannten Theorien zu Rohwedders Mördern montieren und daraus eine Rampe bauen, die weit über den Fall selbst hinausweist. Aus "Rohwedder" wird eine gespenstische Reise zu dem Riss, der die Wiedervereinigung für viele Menschen in Wahrheit immer noch ist.
Wer sich fragt, wie es sein kann, dass 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung die Gefühle des Misstrauens und der Fremdheit zwischen Ost und West nicht verschwunden sind; wie es sein kann, dass in den ostdeutschen Bundesländern die Zustimmung zur Demokratie als Staatsform deutlich geringer ausfällt als im Westen; wie die Freiheitseuphorie von 1989 in die Vereinigungsverdrossenheit von 1992 kippen konnte – der wird in "Rohwedder" Antworten finden. Allerdings solche, die vielen nicht gefallen dürften.
Die vier 45-minütigen Folgen tragen die Titel "Märtyrer", "Kapitalist", "Besatzer" und "Opfer", und sie beziehen sich eben nicht allein auf Rohwedders Rolle im Wiedervereinigungsdrama, sondern auf den ganzen Prozess.
Sie alle beginnen mit der Nacht des Ostermontags 1991, als aus einem gegenüberliegenden Schrebergarten drei Schüsse auf das in Düsseldorf-Niederkassel liegende Wohnhaus von Detlev Karsten Rohwedder abgegeben wurden. Der erste tötete Rohwedder in seinem Arbeitszimmer, der zweite traf seine hinzueilende Frau Hergard im Arm, der dritte schlug in ein Bücherregal ein.

Am Tatort wurde ein Bekennerschreiben der RAF gefunden, an dessen Echtheit in "Rohwedder" einige Zweifel äußern
Foto: NetflixRohwedder gehörte damals zu den am meisten gefährdeten Menschen in Deutschland. Die Treuhand wickelte 15.000 Unternehmen der DDR ab, sie war zum damaligen Zeitpunkt die größte Industrie-Holding der Welt, und viele Arbeiter und Angestellte machten den Chef persönlich dafür verantwortlich, wenn sie ihren Job verloren.
Rohwedder schlug offener Hass entgegen. Dennoch wurde sein Wohnhaus nicht engmaschig bewacht, im oberen Stockwerk seines Hauses war kein Sicherheitsglas in die Fensterrahmen eingebaut.
Die Kruste des Selbstbetrugs
Jede der Täter-Theorien zeigt "Rohwedder" auch im Bild: Eine RAF-Terroristin auf einem Motorrad, einen soldatisch anmutenden Stasi-Trupp, Profi-Killer in weißen Hygiene-Anzügen. Das verleiht dem Vierteiler einen "Rashomon"-Effekt - in dem japanischen Klassiker hatte Akira Kurosawa eine Vergewaltigung und einen Mord aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt.
Die Gleichgewichtung macht die Doku zwar angreifbar - immerhin wurden am Tatort ein Bekennerschreiben der RAF und ein Haar des Terroristen Wolfgang Grams gefunden, was eine RAF-Beteiligung am wahrscheinlichsten macht.
Wirklich stark ist aber, wie "Rohwedder" die Jahre zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung wieder ganz nah heranholt, wie sie vor allem die dicke Kruste des Selbstbetrugs wegmeißelt und das Narrativ vom "Zusammenwachsen, was zusammengehört" in Frage stellt. Und das abseits von bräsiger Fernseh-Doku-Dramaturgie: spannend, wild zwischen verschiedenen Zeitebenen springend, verdichtet und mit Druck.

Schon 1991 schlug stellenweise die Freude über die Freiheit bei Bürgern der ehemaligen DDR in Frust und Hass um.
Foto: NetflixIn mitreißenden Schnitt-Collagen machen die Regisseure sichtbar, wie bei vielen Bürgern der damaligen DDR die Hoffnung auf gerechtere Verhältnisse jäh in die Erkenntnis mündete, dass in ihrem Leben kein Stein auf dem anderen bleiben würde. Wie die mutigen Demonstrationen für Freiheit sich zu Versammlungen gegen Massenarbeitslosigkeit wandelten. Und wie sich bei vielen Ostdeutschen das Gefühl breit machte, über den Tisch gezogen worden zu sein.
Genau diesem Gefühl geben die Macher von "Rohwedder" Raum. Eine arrogant und siegessicher agierende Bundesregierung verordnet den neuen Ländern in ihrer Version eine drastische Schrumpfkur. Ganz nach dem Motto von Thilo Sarrazin, damals Referatsleiter im Finanzministerium, der im Film sagt: "Ich war damals der Meinung, dass der Wert der DDR Null war." Am Ende sieht man wohlfrisierte Geschäftsleute aus dem Westen, die ihr Auge auf DDR-Betriebe werfen: Einkaufstour im Osten.
An einer Stelle sagt Rammstein-Keyboarder Christian "Flake" Lorenz, der ebenfalls zu den Interviewten zählt: "Ganz ehrlich: Als die Wiedervereinigung kam, war ich geschockt. Ich wollte nie Bürger dieses Landes werden." So bitter klingt das in "Rohwedder" auch nach 30 Jahren noch.