"Großkatzen und ihre Raubtiere" auf Netflix König der Tiger

Herrchen mit Haustier in der Netflix-Dokureihe "Großkatzen und ihre Raubtiere"
Foto:Netflix
Bitte sofort alles vergessen, was in den vergangen Wochen als angeblich eskapistisches Kulturprodukt angepriesen wurde! Klar, eine schlammige Kneippkur durch die Seichtsümpfe des Trash-TV oder das Einkuscheln in die tröstlichen Wallegewänder der Hochkultur können einen durchaus kurzfristig von den Sorgen und Nöten der aktuellen Lage ablenken. Doch nichts davon funktioniert so gut wie "Tiger King", eine neue Netflix-Dokureihe, die auf Deutsch etwas verquast "Großkatzen und ihre Raubtiere" heißt.
Hier werden komplett aberwitzige Protagonisten mit einem bizarren Setting und grotesker Handlung verbunden. Die Reihe ist wie maßgeschneidert dafür, allein und doch gemeinsam weggebingt zu werden: Man kann sich zwei Tage lang wunderbar in sozialer Isolation damit beschäftigen, muss danach aber zwingend mit irgendwem darüber chatten, skypen, zoomen. Und all die Memes teilen, die "Tiger King" in Überfülle und schon praktisch vorgestanzt liefert.
Eigentlich - und davon darf man sich als mäßig tierinteressierter Mensch nicht abschrecken lassen - sollte die siebenteilige Reihe die Leidenschaften privater Raubkatzenbesitzer erforschen. In den USA leben schätzungsweise 5.000 bis 10.000 Tiger, Löwen und andere exotische Großkatzen in privater Haltung (und nur noch weniger als 4.000 in freier Wildbahn). Knapp 200 davon besaß ein Mann, der sich selbst den Namen Joe Exotic gab, einen Privatzoo in Oklahoma betrieb und Teil eines Netzwerks hochexzentrischer Tigersammler ist. Schon allein dieses komplexe Powerranking völlig ballaballarisierter Existenzen wäre ein lohnendes Thema, doch mit jeder Folge fächert "Tiger King" neue, kaum zu fassende Bilder in einem schier endlosen Leporello der Absonderlichkeiten auf.
In einem kurz gefassten Versuch, diese verwirrende Opulenz zu fassen, könnte man sagen: Hier haben alle Beteiligten nicht nur einen Knall, sondern gleich mehrere. Joe Exotic ist nicht nur ein ballerwütiger Tigerhalter mit bizarrem Vokuhila, sondern auch ein verstörender Countrysänger und schwuler Polygamist (unter anderem). Sein Tiersammelkollege Bhagavan "Doc” Antle reitet nicht nur gern mal auf einem Elefanten ins Bild, er betreibt auch eine Sexsekte, für die er Frauennachschub mittels niedlicher Raubkatzenbabys anlockt. Carole Baskin, ikonische Gegenspielerin von Joe Exotic, ist nicht nur eine dauerhaft blumenbekränzte Raubtieraktivistin mit Katzenhaarallergie, es spricht auch einiges dafür, dass sie ihren abtrünnigen, schwerreichen zweiten Ehemann zerhäckselt und an die Tiger in ihrem zweifelhaften Gnadenzoo verfüttert hat.

Wer sitzt hier in welchem Käfig?
Daneben tritt ein unerschöpflich scheinendes Sortiment an Ex-Reptilienhändlern, Drogenbossen und weißmähnigen Schlangenhätschlern auf, mit denen geradezu verschwenderisch umgegangen wird: oft nur für ein paar Minuten, obwohl jeder von ihnen mühelos selbst seine eigene Serie tragen würde, es ist ein barocker Reigen menschlicher Kuriositäten.
Real und gleichzeitig wirklichkeitsentrückt wie ein Märchen
Natürlich ist es interessant, sich diese hochdramatischen Personen vorführen zu lassen, eine nach der anderen, wie groteske Zirkusnummern. Die Faszination von "Tiger King" schürft allerdings tiefer: Die Reihe füllt beim Zuschauen die Absurditätsspeicher und Irrational-Depots wieder auf, und das in einer Zeit, in der es absolut auf Rationalität und Beherrschtheit ankommt, in der man täglich harte Zahlen und Kurven studiert, in der Opulenz und Regelbruch gerade keinen Platz haben.
Alles an "Großkatzen und ihre Raubtiere" ist unvernünftig, nichts daran erinnert an das eigene Leben, es ist komplett unmöglich, sich hier mit irgendwem zu identifizieren, und das macht diese Serie gerade so nützlich. Sie ist real und gleichzeitig wirklichkeitsentrückt wie ein Märchen. Und ebenso grausam: Man kann nicht über all diese schrägen Vögel lachen, weil sie auch viele schlimme Dinge tun. Doc Antle vergast mutmaßlich seinen Tigernachwuchs, wenn er dem streichelfähigen Alter entwächst, Joe Exotic hält seine Ehemänner mit Drogen bei der Stange, seine Angestellten erhalten solch kümmerliche Löhne, dass sie sich von dem abgelaufenen Supermarkt-Fleisch ernähren müssen, das sie eigentlich an die Tiere verfüttern sollen. Auch die Zoo-Pizzeria, deutet die Doku an, bezieht ihr Belagfleisch eventuell aus dieser Gammelquelle.
Irgendwann akzeptiert man die Plausibilitätsgesetze
Wem bei dieser immer abstruseren und verworrenen Geschichte nicht immer wieder der Mund offensteht, betreibt wahrscheinlich selbst eine illegale Tapirfarm im Heizungskeller. Wobei man gleichzeitig so unwiderstehlich hineingezogen wird in diese Welt, dass man irgendwann ihre eigenen Plausibilitätsgesetze akzeptiert. Dass Joe Exotic 2016 als Präsident der USA kandidierte , erscheint einem nur noch vage abwegig. Dass er den Chef seiner Wahlkampfkampagne aus der Munitionsabteilung von Walmart abwarb, für die der zuvor zuständig war: normal.
Um die Tiger geht es da freilich längst nicht mehr, auch die anfangs so drängende Frage, wie das alles denn bloß erlaubt oder zumindest semi-legal sein kann, hat man irgendwann vergessen. "Großkatzen und ihre Raubtiere" entwickelt sich rasch zu einer dunkelsoziologischen Lektion über Besessenheit und Manipulationslust, über fünf Jahre hinweg recherchiert und gedreht, erzählt in fast lakonischem Ton, als hätten die beiden Regisseure Eric Goode und Rebecca Chaiklin irgendwann akzeptiert, dass die Geschichte, die sie erzählen, einfach immer noch wahnsinniger werden muss.
Joe Exotic landet im Gefängnis
Ihre Erzählweise weidet sich nicht an den vielen bizarren Momenten, sie lässt sie geschehen und wirkt damit noch stärker: Es wird nicht weiter kommentiert, dass auf dem Foto eines Drogendealers, der ein Löwenbaby herzt, im Hintergrund unkommentiert ein ausgewachsener, lebendiger Ameisenbär herumsteht. Nicht bewertet, dass Joe Exotic auf der Beerdigung seines Mannes Travis, der sich (vielleicht) versehentlich erschossen hatte, verkleidet als Priester dessen Hoden lobpreist. Nicht nachgefragt, warum auf dem Hochzeitsfoto von Carole und ihrem dritten Mann der Bräutigam als Steinzeitmensch verkleidet ist und von der Braut an einer Leine geführt wird.
Ungelöst bleibt auch, wie das nun genau war mit dem Mordplan, den Joe Exotic am Ende angeblich gegen seine ewige Nemesis Carole geschmiedet haben soll. Ein Stripclubbesitzer (natürlich) informierte die Polizei darüber, auch ein zwischenzeitig eingestiegener, selbstverständlich mehr als zwielichtiger Investor spielte dabei eine Rolle. 2019 wurde Joe Exotic deswegen (und wegen 16 weiterer Vergehen, darunter auch Tierquälerei) zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt. Der Tigerkönig hinter Gittern - ein traurig-ironisches Ende einer sagahaften Erzählung über die Frage, wer hier eigentlich in welchem Käfig sitzt.