Polit-Frust-Debatte bei Illner Es muss nicht immer Reichsparteitag sein

Migranten, Vertriebene, Rechtspartei - oder doch eher BahnCard und City-Ticket? Jeder Teilnehmer der Runde von Maybrit Illner hatte sein eigenes Thema mitgebracht, die Moderatorin kapitulierte. So drehte sich zuletzt doch alles um Erika Steinbach, ihre Sprüche und die hysterische Debatte darum.
Von Henryk M. Broder
Illner-Gast Erika Steinbach (mit Bärbel Höhn): "Auch nur ein Mensch"

Illner-Gast Erika Steinbach (mit Bärbel Höhn): "Auch nur ein Mensch"

Foto: ZDF

Schwer zu sagen, worum es bei Illner ging. Um Thilo Sarrazin und sein Buch. Um Erika Steinbach und ihren Bund der Vertriebenen. Um Migranten und Integration. Um die Oder-Neiße-Grenze und die Ostverträge. Um Tabus, Denk- und Redeverbote. Um die BahnCard und das City-Ticket. Um die CDU und die SPD. Um die FDP und die Grünen. Um eine neue Partei rechts von der Union. Um den Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky. Um den Stuttgarter Hauptbahnhof und den Atomdeal zwischen der Bundesregierung und der Energiewirtschaft. Um alles. Und um nichts.

Dabei war das Thema - "Protestlust und Parteienfrust" - noch relativ konkret. Dass es aus dem Ruder lief und Maybrit Illner auf halber Strecke kapitulierte - "Ach, dieses Thema werden wir nicht schaffen" -, lag vor allem daran, dass jeder Teilnehmer der Runde sein eigenes Thema mitgebracht hatte, über das er unbedingt sprechen wollte. Erika Steinbach über die Leiden der deutschen Vertriebenen und ihre "sehr persönlichen Erfahrungen". Heiner Geißler über Erika Steinbach. Bärbel Höhn, die Grüne aus Nordrhein-Westfalen, darüber, was Thilo Sarrazin als Berliner Finanzsenator gemacht hat.

Johannes Kahrs vom konservativen Seeheimer Kreis der SPD darüber, wie man den Euro stabil halten könnte. Helmut Markwort über Lehrer, die von ihren Schülern gemobbt werden.

Und nur weil Klaus Ernst, der Vorsitzende der Linkspartei, seine Teilnahme kurzfristig abgesagt hatte, da er nicht neben Erika Steinbach sitzen wollte, werden wir nie erfahren, worüber er gern geredet hätte.

Brandgeruch der Relativierung

Aber Erika Steinbach war da, und so drehte sich der erste Teil der Debatte darüber, was sie gesagt und wie sie es gemeint hatte. Sie machte sozusagen den Sarrazin. "Provozieren Sie gerne?", fragte Maybrit Illner gleich zu Anfang. "Nein", antwortete Erika Steinbach, "aber es gibt Dinge, die man sagen muss." Dazu gehörte in der vergangenen Zeit die Bemerkung, es sei nun einmal Tatsache, dass die Polen bereits im März 1939, ein halbes Jahr vor Kriegsbeginn, mobilisiert hätten und dass der ehemalige polnische Außenminister, Wladyslaw Bartoszewski, einen "schlechten Charakter" habe. Damit war Frau Steinbach, naiv oder berechnend, gleich zweimal in den Fettnapf getreten. Die Sache mit der polnischen Mobilmachung verteidigte sie damit, das sei "keine Wertung, das ist ein Faktum" und es müsse "in einer Demokratie möglich sein, Fakten zu benennen".

Frau Steinbach ist eine erfahrene Politikerin, sie leitet den Bund den Vertriebenen seit zwölf Jahren und müsste es besser wissen. Das "Faktum", die Polen hätten schon im März 1939 mobilisiert, ist mehr als die Feststellung einer historischen Tatsache. Es suggeriert natürlich, der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 sei nur eine Reaktion auf die vorausgegangene polnische Mobilmachung gewesen, die Polen hätten angefangen. Da hilft es auch nicht, wenn Frau Steinbach hinterher versichert, Hitler habe "die Büchse der Pandora geöffnet". Der Brandgeruch der Relativierung bleibt in der Luft hängen. Und wenn sie auch noch Bartoszewski einen "schlechten Charakter" bescheinigt, vor allem deswegen, weil er ihre Briefe nicht beantwortet habe, dann bewegt sie sich im Bereich des Lächerlichen.

Ihre Kritiker allerdings auch, wenn sie darauf hinweisen, der inzwischen 88-jährige Bartoszewski, habe "Auschwitz überlebt". Auschwitz war ein Vernichtungslager, eine Todesfabrik, in der mehr als eine Million Menschen ermordet wurden, keine Erziehungs- oder Besserungsanstalt. Auch ein Auschwitz-Überlebender kann und darf einen "schlechten Charakter" haben.

"Jahrelang im Orchester gespielt"

Allein dieses Detail belegt, wie hysterisch die Debatte geführt wird. Es muss nicht immer "Autobahn" oder ein "innerer Reichsparteitag" sein. Und so hatten es die anderen Teilnehmer der Runde leicht, ihre moralische Überlegenheit zu demonstrieren. Steinbachs Äußerungen seien "eine Schande, ein Skandal" wetterte Heiner Geißler (ebenfalls CDU), der schon vergessen hatte, welche Reaktionen er im Jahre 1983 mit der Bemerkung ausgelöst hatte, der Pazifismus der dreißiger Jahre habe "Auschwitz erst möglich gemacht". Im selben Jahr nannte er die SPD "die fünfte Kolonne der anderen Seite", womit er den Ostblock meinte.

Geißler, inzwischen altersweise, progressiv und Mitglied bei Attac, wurde 1995 für sein Lebenswerk mit dem Aachener "Orden wider den tierischen Ernst" ausgezeichnet. Bärbel Höhn gab sich mit der relativ moderaten Feststellung zufrieden, Frau Steinbach habe sich "disqualifiziert", Helmut Markwort nannte das Ganze, nachdem er Voltaire zitiert hatte, "die überflüssigste Debatte der Welt". Aber da war die Debatte schon zu weit fortgeschritten, um sie mit Hilfe einer Notbremsung zu stoppen. Frau Steinbach verteidigte sich so ungeschickt, wie sie sich davor aus dem Fenster gehängt hatte: "Irgendwann ist man auch nur ein Mensch, ich gestatte mir hin und wieder, auch ein Mensch zu sein." Sie habe "jahrelang in einem Symphonieorchester gespielt" und so stelle sie sich "auch Europa vor", einen Klangkörper aus vielen Stimmen.

Nachdem das geklärt war, wandten sich alle wieder Sarrazin zu, dem Bärbel Höhn vorwarf, dass er keine Lösungen anbietet. "Er trägt nicht dazu bei, dass wir integrieren, er trägt dazu bei, dass wir spalten." Dann stritt sich Frau Höhn eine Weile mit Helmut Markwort darüber, ob er die Frankfurter U-Bahn mit der BahnCard oder mit einem City-Ticket benutzen darf. Das Beste gab es, wie immer, zum Schluss. Markworts Bemerkung, die Parteien wären im Begriff, sich selbst abzuschaffen, konterte Johannes Kahrs mit der Empfehlung: "Dann gehen Sie rein, verändern Sie die Parteien!"

Worauf sich alle Blicke auf Erika Steinbach richteten. "Nein", versicherte sie, sie wolle nicht die Vorsitzende einer neuen Partei werden.

Darauf einen Sarrazin!

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