
"Polizeiruf" aus Rostock: Heimkinder und Höllenengel
Rostocker "Polizeiruf" Guter Rocker, böser Rocker
Der Rocker von heute trägt Stiernacken und Glatze, die Harley gehört für ihn ebenso zur Ausrüstung wie das Smartphone, mit dem er seine Geldgeschäfte lenkt. Rolf (Thomas Sarbacher) ist sehnig und trägt lange Haare, er ist eher der Rocker von gestern. Ein Mann mit Ehre. 20 Jahre war er beim Rostocker Charter der Satanic Riders, zuletzt als road captain. Klar, sagt Rolf mit norddeutschem Slang, Schutzgelderpressung und "Nudden abkassieren" sei für ihn nie ein Problem gewesen. Drogenhandel schon. Wegen der Kinder. Da kommen einem glatt die Tränen.
Wer hätte das gedacht: Katrin König (Anneke Kim Sarnau), hartgekochte LKA-Ermittlerin und über die Strukturen der Rockerclubs in Mecklenburg-Vorpommern bestens informiert, kriegt tatsächlich ein wenig wässrige Augen. Vielleicht liegt es daran, dass sie, wie der Rocker schnell herausfindet, in einem Heim aufgewachsen ist. So wie Rolf selbst. Eine verlassene Seele erkennt die andere verlassene Seele eben sofort.
In der vorherigen Episode des Rostocker "Polizeirufs 110" hatte Kommissar Bukow (Charly Hübner) sein Solo, die aktuelle wurde um die Kollegin König gebaut. Sie bringt den ausstiegswilligen Rolf in ein Ferienhausversteck, um ihn dort zu seinem charter und seinem president zu verhören. Der Mann hat genug vom Niedergang seines einst so stolzen Motorradclubs. Damals, so der nostalgische Biker, war das Rockersein ein Lebens- und kein Geschäftsmodell wie heute, wo die Banden das ganz große Geld erpressen und dann in Immobilien anlegen. Damals habe er bei Bikern eine Familie gefunden, die ihm gefehlt habe. Kriegt er mit solchen Erklärungen tatsächlich das Heimkind König rum?
Erst Schlagzeugwirbel, dann Schläge
"Stillschweigen" ist ein tadelloser Milieukrimi geworden. Der Film verdichtet das reale Treiben der Hells Angels, das durch die Razzien der letzten Monate offenkundig geworden ist, zu einem schlüssigen Psychodrama: Der Satanic Rider Rolf stellt sich dar, die Ermittlerin muss herausfinden, was Dichtung und was Wahrheit ist. Folklore und brutales Geschäft gehen bei den Rockern ja Hand in Hand. Im "Polizeiruf" werden korrekt die Strukturen der organisierten Rockerbanden offengelegt, ihre Hierarchie von prospect über member bis president, gleichzeitig nähert man sich dem Verein über einen gefährlich sympathischen Kuttenträger.
Drehbuch und Regie von "Stillschweigen" hat Eoin Moore übernommen, der für den NDR auch die Entwicklung des Rostocker TV-Reviers verantwortete. Moore, gebürtiger Ire aus ärmeren Verhältnissen, hat ein gutes Gespür für Milieubesichtigungen. Er kann die Sehnsüchte seiner nach Anerkennung ringenden Figuren nachzeichnen, ohne ihnen zu verfallen. Auch in den härtesten Szenen seiner Krimis schwingt immer eine gewisse Melancholie mit. Es gibt kein Profiler-Gelaber, keine "CSI"-Forensik-Monologe. Stattdessen: ausgiebige, extrem realitätsnahe Action und kurze prägnante Momente der Introspektion.
Für das Gerenne ist diesmal vor allem wieder Bukow zuständig, der gewohnt lädiert, übermüdet und ungewaschen zwischen Rocker-Vereinsheim und Laufhaus hinundherdüst. Droht Dresche, und das tut es in diesem Krimi-Stück eigentlich die ganze Zeit, dann erklingen auf der Tonspur wieder dynamische, analoge Trommelwirbel. Der Rostocker "Polizeiruf" hat neben dem ewig jazz-schwangeren Frankfurter "Tatort" zweifellos den besten Soundtrack.
Wenn das Schlagzeug loswirbelt, kann man also sicher sein, dass der Ermittler gleich ganz schön in die Visage oder noch empfindlichere Körperteile bekommt. Aber die Stille ist in diesem Krimi um Heimkinder und Höllenengel ist noch viel schlimmer: Dann geht es ans Eingemachte, dann wird die Seele malträtiert.
"Polizeiruf 110: Stillschweigen", Sonntag 20.15 Uhr, ARD