Sterbehilfe-Event im Ersten Der Tod ist ein Lehrmeister aus Deutschland

Mitten in der Pandemie veranstaltet das Erste das Themenabend-Spektakel »Gott«: Starschauspieler und TV-Publikum urteilen über das Für und Wider des Freitods. Ein grauenvolles Mitmach-Tribunal.
Mitmach-Tribunal: Szene aus Lars Kraumes TV-Spiel »Gott«

Mitmach-Tribunal: Szene aus Lars Kraumes TV-Spiel »Gott«

Foto: Julia Ter / ARD

Was genau hat den wichtigen öffentlich-rechtlichen Senderverbund ARD angetrieben, im November 2020 ausgerechnet dem Wunsch eines 78-Jährigen, aus dem Leben zu scheiden, einen langen Diskussions- und Publikumsabstimmungsabend zu widmen? Warum wird im düsteren Virusherbst unter dem Titel »Gott« mehr als zweieinhalb Stunden lang über die Pros und Kontras und Möglichkeiten zum »assistierten Freitod« geredet?

Während sich täglich Aberhunderte von Bewohnerinnen und Bewohner in deutschen Alten- und Pflegenheimen als Corona-Infizierte erweisen, während sich viele Tausend ältere (und auch jüngere) Menschen vor einer Infektion und deren Folgen fürchten, ist in Frank Plasbergs »Hart aber fair«-Talkrunde am Montagabend von einem gesellschaftlichen »Nutzungsdruck« gegen ältere, gebrechliche Leute die Rede. Gegenüber Plasberg beschwört die Ärzteverbandsfrau Susanne Johna ein für die Zukunft denkbares Schreckensszenario.

In dem könnten Werbebanner vor Altenheimen verkünden: »Wir werben für einen medizinisch betreuten Suizid.« Unterm Strich hat das Erste mit dem ausführlich vorab bejubelten Sterbehilfe-Event »Gott« nichts anderes getan.

»Wem, wenn nicht uns, gehört unser Sterben?«

Aber der Reihe nach. Der Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach  hat ein Theaterstück mit dem Titel »Gott« geschrieben, der Regisseur Lars Kraume hat es mit einer Starbesetzung verfilmt. Präsentiert wird die TV-Version am Montag gleich nach der »Tagesschau«. Der von vielen schauspielerischen Heldentaten hübsch gefurchte Matthias Habich spielt einen 78-jährigen Witwer namens Richard Gärtner, der vor dem Deutschen Ethikrat in einer Art Talkshow sein Anliegen vorträgt. Herr Gärtner ist zwar gesund, mag aber nach dem Tod seiner Frau nicht mehr leben. Er würde sich gern von seiner Hausärztin mit Medikamenten umbringen lassen.

Die Ärztin, von Anna Maria Mühe mit nüchternem Trotz dargestellt, hat moralische Bedenken. Zu Recht, findet ein von dem Darsteller Götz Schubert schön arrogant in den Zeugenstuhl gelungerter Ärtztelobby-Funktionär. Zu Recht, findet ein von Ulrich Matthes glutvoll verkörperter katholischer Bischof. Zu Unrecht, findet der eitle, aber kluge Anwalt des Sterbewilligen, den Lars Eidinger spielt. »Wem, wenn nicht uns, gehört unser Sterben?«, fragt der supersmarte Eidinger-Mephisto.

Schon während der TV-Sendung (und bis fünf Minuten danach) darf das Publikum abstimmen, ob der süß bittend dreinschauende, körperlich und geistig superfitte Herr Gärtner die von ihm gewünschte medizinische Hilfe beim Abtreten ins Jenseits bekommt oder nicht.

Das Abstimmungsergebnis wird im anschließenden »Hart aber fair«-Talk verkündet und fällt mit 70,8 Prozent Ja-Stimmen für die Erfüllung von Herrn Gärtners Todeswunsch und dementsprechend 29,2 Prozent Gegenstimmen sehr klar aus. Ferdinand von Schirach ist zwar ein gefeierter Bestsellerautor und ausgesprochen sympathischer deutscher Intellektueller, den viele Menschen wohl am liebsten zum Bundespräsidenten wählen würden. Aber »Gott« ist leider eine jedem Bundespräsidenten würdige Langweilerpredigt an ein längst bekehrtes Publikum.

Sie wendet sich gegen historische Bedenken, die darauf gründen, dass die Nazis in ihren Augen »lebensunwerte« Menschen töteten. Sie wendet sich gegen theologische Einwände, wonach auch der Tod des Menschen allein nach Gottes Willen eintreten dürfe. Schirach verkündet (wie sein Doppelgänger im Stück, der von Eidinger gespielte Anwalt Biegler), dass im Prinzip jedes Individuum entscheiden darf, wie es sterben will. So denken heute offenbar sehr viele Menschen in Deutschland. »Ich habe es fast erwartet«, sagt der keinesfalls seelsorgerisch aufgewühlte, sondern gemütvoll gelassene katholische Bischof Georg Bätzing in »Hart aber fair«, als das Publikumsvoting verkündet wird.

Gesetze können spontane Selbstmorde nicht verhindern

Es gibt erstaunlich wenig zu diskutieren in Plasbergs Talkrunde. Im Fe­bruar 2020 hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt in einem spektakulären Ur­teil befunden, dass jede deutsche Bürgerin und jeder Bürger die un­ein­ge­schränkte Frei­heit habe, dem eigenen Leben ein Ende zu set­zen – ganz egal, ob sie oder er ster­bens­krank oder kern­ge­sund ist. Was genau dieses Urteil für den Umgang zwischen Kranken und Ärzten bedeutet, muss der Bundestag noch in konkrete Gesetze fassen.

Der Studiogast Olaf Sander schildert am Montag schon mal berührend, wie sehr er unter der unklaren rechtlichen Situation vor diesem Urteil litt, als er 2017 seiner schlimm leidenden, todkranken Mutter beim Sterben half. Die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert erklärt, dass die neue rechtliche Lage nicht verhindern werde, dass sich auch künftig Menschen von Häusern stürzen und auf Bahngleise werfen und damit, wie sie es nennt, »Brutalsuizide« begehen. Brutalsuizidtäter seien nämlich in der Regel spontan entschlossen und nicht von rechtlichen Erwägungen angeleitet.

Hatte Eidingers Anwalt im TV-Stück nicht genau gegenteilig argumentiert? Egal. Gastgeber Plasberg entschuldigt sich zwischendurch, stolzstrahlend über all das Grauen, das Dargebotene sei »schwere Kost«.

Bei Kraumes »Gott«-Prominentenschaulaufen handelt es sich um brillantes Gerichtsaalsdramen-Handwerk wie schon Kraumes Schirach-Adaption »Terror« aus dem Jahr 2016. Höchstwahrscheinlich halten auch die »Hart aber fair«-Macher ihre »Gott«-Sendung für eine pädagogische Leistung, die Weltformat bewiesen hat – bei ihnen ist der Tod ein Lehrmeister aus Deutschland.

Ich habe mich an diesem Montagabend viele Minuten lang gefragt, wie ich es finden soll, dass die ARD-Programmmacher einem TV-Drama, in dem die Schauspielerin Barbara Auer als Ethikrat-Vorsitzende mit innigem Blick ihre Zuschauer fragt, ob »Ärzte dabei hel­fen« sollten »Leben zu be­en­den«, ganz dringend einen Sendetermin in diesen Corona-Tagen verschaffen mussten. Soll man es frivol nennen? Ist es obszön? Mindestens brutal unsensibel darf man es schon finden.

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