

Das Skalpell war sein Leben, das Skalpell war sein Tod. Dem Kinderarzt Dr. Lanther eilte der Ruf voraus, dass er mit dem scharfen Instrument stets schnell bei der Sache war - oft schneller als es seinen kleinen Patienten und deren Eltern lieb gewesen ist. Jetzt liegt er mit Skalpell im Rücken im schönen Gütschwald von Luzern herum. Die Trauer der Patienten hält sich in Grenzen.
Wenig verwunderlich: Bei seinen Untersuchungen stößt Kommissar Reto Flückiger (Stefan Gubser) auf etliche Personen, die sich als Behandlungsopfer des Mediziners sehen. Der war spezialisiert auf Intersexuelle, auf Menschen also, die sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen lassen. Weder Bub noch Mädchen, das konnte für den ehrgeizigen Chirurgen nicht sein, deshalb nahm er bei seinen Patienten sogenannte Geschlechtszuweisungen vor, wenn diese zwei Jahre alt waren. Viel zu früh, wie Kritiker meinten. Die Kinder hätten viel mehr Zeit gebraucht, um ihre sexuelle Identität zu finden.
Ein Tabuthema nennt das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) den Stoff Intersexualität. Modethema wäre aber auch nicht falsch. Denn im Herbst vergangenen Jahres gab es gleich zwei "Tatort"-Episoden dazu: eine aus Köln, wo Edgar Selge zu einem rührenden Identitäts-Thriller in Rüschen und Röckchen einlud, und eine aus Münster, in der es innerhalb einer grob gestrickten Handlung um einen Hermaphrodit im Profi-Tennis ging.
Ich bin, was ich fühle
Doch obwohl das SRF mit "Skalpell" (Regie: Tobias Ineichen, Buch: Urs Bühler) nicht wirklich "Tatort"-Neuland betritt, kann der Sender durchaus stolz auf diese Episode sein. Nach dem desaströsen Neustart des Schweizer TV-Reviers im vergangenen Jahr (die Episode "Wunschdenken" musste nach öffentlich gemachter Kritik durch die Senderverantwortlichen umfassend umgeschnitten werden), überzeugt diese zweite Folge mit Reto Flückiger als Hauptermittler. Und das in drei Punkten, die für einen ambitionierten Themen-Krimi unerlässlich sind: Dieser "Tatort" hat Haltung, er fächert seinen Stoff erzählerisch geschickt auf, und der Ermittler zeigt Empathie.
Denn die Positionierung zum Thema erfolgt in diesem Gender-Krimi sehr klar: Der kleine Unterschied, er ist eben nicht eine Frage der Schärfe des Skalpells. Kommissar Flückiger und seine gerade aus Chicago zurückgekehrte Kollegin Liz Ritschard (Delia Mayer) sind gezwungen, tief ins Thema einzutauchen. Sie treffen auf Jungs, die in Mädchenkörpern gefangen sind, sie treffen auf Eltern, die ihren Kindern auf ärztliche Weisung ihre wahre sexuelle Identität vorenthalten, sie treffen aber auch Menschen, die sich im Zwischenreich zwischen Mann und Frau eingerichtet haben: Ich bin, was ich fühle. Das gilt für das dritte Geschlecht wie für die beiden anderen.
Und wehe, wenn einem jemand von außen vorschreibt, was man zu fühlen hat. Wie heißt es einmal eindringlich über einen operierten transsexuellen Halbwüchsigen in diesem "Tatort": "Man hat ein Mädchen aus ihr gemacht, aber sie ist niemals eines geworden."
Zugegeben, die komplizierten Identitätskonstruktionen werden hier zuweilen über einen arg schlichten Plot eingeführt. Aber der Schauspieler Stefan Gubser hat nach dem Fehlstart für seinen Reto Flückiger ein Gespür entwickelt, das ihn auch in mit Thesen und Fachvokabular vollgepumpten Szenen glaubhaft wirken lässt. Er spielt leise, verletzlich, angreifbar, manchmal gar ein wenig krumm vor Sorge. Er hinterfragt sich selbst. Manchmal wispert er, als ob er Angst vor der eigenen Stimme hat. Dafür ist er ein guter Zuhörer.
Auch die ARD hat diese Herangehensweise offenbar überzeugt. Nachdem man nach der ersten desaströsen Flückiger-Episode offen gelassen hat, ob man in Zukunft mit dem SRF kooperieren werde, steht jetzt zumindest bis 2014 verbindlich eine Zusammenarbeit fest. Zwei "Tatort"-Episoden wird es demnach pro Jahr aus Luzern geben, eine weitere folgt schon im August.
Dem Zuschauer soll es recht sein. Dem Flüsterer Flückiger folgt man lieber als vielen Kommissaren im deutschen Fernsehen, denen Selbstzweifel fremd sind. Wo in anderen Krimis Testosteron verspritzt wird, da herrscht im Schweizer "Tatort" eine rigorose Zerknirschtheit. Am Ende, bei einer Verfolgungsjagd, tritt ein intersexueller Straßenjunge dem Flückiger in die Hoden, dass der vor Schmerzen wimmert. Die Kollegen wollen unbedingt, dass er zum Röntgen geht. Doch der Kommissar schleppt sich kompromisslos ans Ende seines Falles. Er geht jetzt noch gekrümmter und flüstert noch leiser.
Anmerkung der Redaktion: In den kommenden Wochen werden keine neuen Sonntagskrimis gezeigt. Deshalb geht auch die "Fadenkreuz"-Kolumne in die Sommerpause.
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