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Grenzgänger Carrière: Auf eine Kakerlake mit Freud

Foto: Andreas Rentz/ Getty Images

Skandalmaschine Mathieu Carrière Ein Mann zieht blank

Im Dschungelcamp ließ er ebenso die Hosen runter wie bei dem Psychoanalyse-Denker Gilles Deleuze: In seinem neuen Buch "Im Inneren der Seifenblase" bringt Mathieu Carrière jetzt Therapie und TV-Trash zusammen. Begegnung mit einem Exhibitionisten aus Überzeugung.

Erstmal eine Morphiumspritze setzen lassen. Gegen den Selbstekel. Gut, wenn man eine Tochter hat, die mit dem Spritzbesteck umgehen kann. Mathieu Carrière scheint jedenfalls in seinem Element, als ihm die junge Schauspielerin Barbara Lanz in der schummrigen Bar des Hotel Maritim Reichshof mit einem Kugelschreiber an den Venen rumfuhrwerkelt. Er spielt Freud, sie dessen Tochter Anna. In Kooperation mit dem Deutschen Schauspielhaus wird man ab Mai in der schönen Spelunke "Letzte Runde" uraufführen, ein Stück über die letzten Tage Freuds in London.

Carrière wollte dem Journalisten nur eine kleine Kostprobe geben. "Wie findest Du es?" fragt er. Schwierig zu sagen. Macht nichts, Carrière übernimmt selbst das Schwärmen. Über die historischen Leistungen Anna Freuds im Bereich der Kinderpsychologie, über die manipulative Kraft des alten Freud: "Er war", so Carrière beim ersten der sehr schnell getakteten Biere des Abends, "der deutsche Conan Doyle, der Sherlock Holmes des Seelenlebens. Der beschreibt seine Krankengeschichten wie Kriminalfälle."

Moment mal, soll das hier etwa ein Vortrag über die Psychoanalyse werden? Wo ist denn der Carrière, der provoziert, auf die Spitze treibt, sich um Kopf und Kragen redet? Ah, da ist er: "Du merkst beim Lesen von Freud zuerst gar nicht", führt er seine Gedanken zur unvermeidlichen Pointe aus, "wie dir dieser Mann seine eigenen Hirngespinste als logische Entwicklung von Gedanken unterjubelt. Du sagst: Ja, klar, hat der Leonardo da Vinci symbolisch den Schwanz seines Papi im Mund, als er Moses mit der Tafel meißelt!"

Das sind so die Sprüche, für die man den Mann schätzt oder ablehnt. Meistens Letzteres. Kaum ein Mensch in diesem Land, der keine Meinung zu ihm hat. Carrière scheint das zu genießen. Und zu hassen. "In unserem Geschäft werden wir bombardiert mit Urteilen", sagt er, nachdem er sich das nächste Bier hinterm Tresen hervorgeholt hat. "Die Leute glauben ja alle, dass sie dir etwas über dich sagen könnten. Darum geht es auch in meinen Buch."

Pro-Freud und Anti-Ödipus

Ach ja, das Buch. "Im Inneren der Seifenblase" heißt es und handelt von einem Schauspieler, der sich in den unteren Segmenten des deutschen Fernsehens durchschlagen muss. Wie tickt so einer? Wie überlebt so einer? Was verdrängt er? Auf der Couch mit einem abgehalfterten Soap-Star: Natürlich handelt der Roman auch von Carrière selbst, der 2008 eine feste Rolle in der scheußlichen Sat.1-Telenovela "Anna und die Liebe" hatte.

"Ich habe in dem Buch zwei Dinge zusammengebracht: Dieses Maskenspiel in der Unterhaltungsbranche und die Psychiatrie. Mit beiden kenne ich mich aus. Mein Vater ist Neurologe und Psychiater, meine Mutter war Therapeutin, das hab ich also quasi mit der Muttermilch eingesogen." Und nach einem weiteren großen Schluck Bier fügt er eher leise hinzu: "Ich kenne die menschlichen Abgründe, mein Bruder hat sich umgebracht, bei dem Philosophen Deleuze habe ich zehn Jahre nicht nur den Anti-Ödipus studiert."

Man muss Mathieu Carrière als Gesamtkunstwerk sehen, er ist Schauspieler, Privatgelehrter, Skandalmaschine in gleichem Maße. Und in allen drei Bereichen macht er einen exzellenten Job. Für jeden, mal mehr und mal weniger kalkulierten Ausfall hat er zwei brillante Auftritte in seiner Filmografie. Klar, er hing sich in einer lächerlichen Performance während seines bizarren Protests für mehr Männerrechte ans Kreuz, er schlich sich somnambul durchs "Promi-Dinner", er gab bei "Let's Dance" den irrsinnigen Hüpfer. Er drehte aber auch mit Schlöndorff, Vadim und Rohmer.

Intellekt mit Sexappeal

Unvergessen sein Auftritt in Robert van Ackerens "Die flambierte Frau" 1983, wo Carrière als Callboy vor Suhrkamptaschenbüchern posiert, die nach den Regenbogenfarben geordnet sind. Intellekt - oder zumindest das Zurschaustellen von Intellekt - kam in Deutschland nie wieder so sexy daher.

Über solch legendäre Auftritte würde man gerne sprechen, stattdessen aber unterhält man sich in der Hotelbar vor allem über Pleiten, Pech und Sorgerechtsstreitigkeiten; zwei Töchter von zwei von ihm getrennt lebenden Frauen hat Carrière. Leisetreten ist bei diesem Thema nicht seine Sache. Wo sich alle anderen deutschen Schauspieler bescheiden und erfolgreich geben, da macht er gerne auf größenwahnsinnig und erfolglos, definitiv die interessantere Mischung.

Im Moment, Stil muss sein, lebt er in Venedig, Paris und Hamburg. Oft besucht er die ältere Tochter in New York. Das kostet, daraus macht Carrière keinen Hehl: "Ich versorge sechs Leute. Ich habe Baustellen in vier verschiedenen Ländern, ich muss 'ne ganze Masse Geld einfahren. Da kann man nicht nur immer auf der Spielwiese rumhopsen, da muss man auch mal 'ne Telenovela machen."

Schon wieder ist ein Bier alle, und während Carrière ins leere Glas starrt, scheint ihm aufzugehen, dass das nun selbst für ihn sehr negativ klingt. Er fügt hinzu: "Aber das Ganze ist natürlich auch ein lustvolles Spiel. Ich war jahrelang spielsüchtig. Ich habe meine erste Ehe durchs Spielen ruiniert. Ich habe in New York rumgesessen und Blitzschach gespielt. Auch in meinem Rumspielen in und mit den Medien steckt viel Sucht."

Aber wie funktioniert das, vom Wunderkind des deutschen Films, der nach Schlöndorffs "Jungen Törless" 1966 als einer der ganz wenigen hiesigen Schauspieler eine veritable europäische Karriere einschlug, zum Radikalhumoristen des deutschen Privatfernsehens? "Ich habe mir irgendwann eine Clownsmaske aufgesetzt", sagt Carrière. "Das war Anfang der Neunziger in New York, als ich meine erste Tochter nicht mehr sehen konnte. Ich war 20 Jahre aus Deutschland weggewesen, ich kriegte keinen Fuß mehr auf den Boden. Ich hatte am Ende sechs Jahre Scheidungs- und Sorgerechtskrieg hinter mir. Ich wäre damals beinahe zerbrochen."

Wahn, Angst, Trieb

Auch das lässt sich an Carrière goutieren: Je pflichtbewusster er seine Pirouetten im deutschen Fernsehen schlägt, desto stärker treten Wahn, Angst, Trieb hervor. Freud hätte seine Freude gehabt. Und während er noch mal hinter dem Tresen der Hotelbar verschwindet, erklärt Carrière: "Keine Frage, ich bin manchmal ein Exhibitionist. Es ist natürlich auch 'ne Taktik. Wenn ich nicht diese spielerische Form der Gegenmanipulation gefunden hätte, dann wäre ich jetzt tot."

Okay, jetzt steht es endgültig fest: Statt über europäisches Kino müssen wir über deutsches Fernsehen reden. Die Deutschen, so Carrière voller Hohn, guckten fern, als ob sie Bücher lesen: "Die wollen immer alles genau verstehen. Da hält jemand einem anderen eine Pistole an den Kopf und brabbelt was - und der deutsche Fernsehzuschauer fragt: Was hat der eben gesagt?"

Da fällt Carrière ein, wie er 1998 mit dem grandiosen Niki Stein die "Tatort"-Episode "Manila" über Kindesprostitution gedreht hat. Er war mal wieder der Böse und übernahm den Part, den vorher drei andere Kollegen abgelehnt hatten: "Ein Staatsanwalt, der kleinen Thai-Jungs beim Analverkehr Zigaretten auf dem Rücken ausdrückt. Das Interessante an den Reaktionen der Branche: Alle sprachen darüber, dass ich ja meine Haare gefärbt hätte - und nicht darüber, dass ich Jungs foltere." Klassische Verdrängung, Freund Freud wäre schon wieder begeistert.

Carrière spricht im Gegensatz zum Rest der Branche über alles - und über das Unangenehme besonders gerne. Also das "Dschungelcamp". Findet er aber gar nicht schlimm, im Gegenteil: "Wir waren alle auf Entzug. Auf Entzug von Protein, Nikotin, Alkohol. Einige wohl auch auf Entzug von härteren Sachen. Aber wir haben Teamgeist entwickelt, wir haben es den Produzenten dem Sender und den Zuschauern gezeigt."

Wie Ratten im Käfig

Das TV-Lager sei wie Las Vegas, so der Grauschopf: "Die härteste und purste Form von Unterhaltung." Ein bisschen pathologisch klingt es, wenn er über das RTL-Szenario spricht: "Wir sind da drin in Isolationshaft, wir sind wie Ratten in einem Käfig, Wir wissen, wir werden Stromstöße kriegen, aber wir wissen nicht wann."

Wenn es um die ganz realen Stromstöße geht, die seine Campkameradin Katy Karrenbauer während einer Dschungelprüfung einstecken musste, wird selbst der ewige Tabuflirter Carrière ein bisschen ratlos: "Die Nummer fand ich schon grenzwertig. Hat sich aber komischerweise keiner aufgeregt. Und noch sonderbarer: Wir müssen da gelbe Sterne aus dem Schlamm fischen. Gelbe Sterne! In einer deutschen Fernsehshow! Es war, als ob man mit Essen dafür belohnt wird, wenn man Juden findet."

Vielleicht ist es bezeichnend, dass solche Subtexte von niemandem mehr gelesen werden außer von Mathieu Carrière selbst, der seine geliebte kranke deutsche Fernsehwelt, in der es doch eigentlich keine Geheimnisse und keine Tabus mehr zu geben scheint, durch die Brille Freuds betrachtet. So schlägt er sich durch die unteren Etagen des hiesigen Unterhaltungsbetriebs, lustvoll, aber illusionslos, ein Showsoldat. "Die Arbeit des Schauspielers", so Carrière, "ist doch immer die gleiche: Pünktlich sein, Marke finden, Text sprechen. Egal, ob du nun bei einer Marguerite Duras-Verfilmung mitmachst oder bei 'Anna und die Liebe'."

Die Biervorräte hinterm Tresen sind alle. Es kommt einem vor, als hätte Carrière leichte Schlagseite, das letzte Glaubensbekenntnis des Abends formuliert er trotzdem mit tadellos trockenem Duktus: "Der Schauspieler ist wie ein Hund; der ist über jeden Knochen froh, den man ihn hinwirft. Aber ganz ehrlich: Sinn? Ne, Sinn macht der Beruf nicht."

"Letzte Runde - Freud im Fegefeuer", ab 5. Mai in der Bar des Maritim Hotel Reichshof (genaue Termine: schauspielhaus.de)

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