Miniserie über Rassismus in Großbritannien Bruch mit allen Regeln

Letitia Wright als Black-Panther-Aktivistin in der Episode »Mangrove«
Foto: Capital Pictures / ddp imagesIn einem Jahr, in dem Filme und Serien im Stream irgendwie eins wurden, passt es, dass einer der kulturellen Höhepunkte alles zugleich ist, Miniserie genauso wie Filmreihe: »Small Axe« von Steve McQueen.
Fünf Filme zur Geschichte der schwarzen Einwanderer aus den West Indies (vornehmlich Jamaika und Trinidad) nach London umfasst die Reihe, die gleichzeitig mit den Regeln einer Reihe bricht. Drei Folgen dauern jeweils nur eine knappe Stunde lang, eine dagegen über zwei. Partyfilm folgt auf Gerichtsdrama, dazu kommen zwei Filmporträts.
Angesiedelt sind die Filme zwischen 1969 und 1985. Jede Episode funktioniert für sich allein, doch erst gemeinsam fangen sie an zu schillern und zu klingen: Figuren der Zeitgeschichte treten hervor und fügen sich gleichzeitig in das Porträt einer Community ein, wie es das Fernsehen in dieser Komplexität noch nicht geschaffen hat. ARD, ZDF, bitte sofort nachmachen!
McQueen, selbst Sohn von Einwanderern aus Grenada-Trinidad, hat alle Folgen inszeniert und mitgeschrieben. Er war mit dem Rassismusdrama »12 Years A Slave« 2013 der erste schwarze Regisseur, der den Oscar für den besten Film gewann. Ein Wagnis wie »Small Axe« hätte man trotzdem nicht von ihm erwartet, denn künstlerisch entwickelte sich der Brite seit seinen radikalen Anfängen immer mehr in Richtung Konvention.
Rückblickend erscheinen seine bisherigen Filme nun wie nötige Vorübungen zu »Small Axe«. Alles ist da, die Beschäftigung mit der britischen Geschichte aus »Hunger«, die Charakterstudien aus »Shame«, die Rassismusanalyse aus »12 Years A Slave« und die Erzähleffizienz aus »Widows«, jetzt aber verbunden in einem einzigartigen Projekt.
Den Anfang der Reihe, die Amazon Prime von der BBC angekauft hat und leider nur im Original zum Kauf anbietet, macht das furios verdichtete Gerichtsdrama »Mangrove«. Darin wird der Prozess der »Mangrove Nine« aufgegriffen, der neun Schwarzen, die sich 1970 wegen vermeintlicher Gewalt gegen Polizisten vor Gericht zu verantworten hatten. Vergleiche mit »The Trial of the Chicago 7« drängen sich auf, lassen Aaron Sorkins Film aber schlecht aussehen, denn McQueen erreicht ohne Show-Dialoge und Staraufgebot die ungleich größere Durchschlagskraft.

Szenenbild aus »Mangrove«
Foto: Capital Pictures / ddp imagesDas »Mangrove« war ein karibisches Restaurant in Notting Hill, das wiederholt zum Ziel willkürlicher Polizeirazzien wurde. Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten, die gegen die Razzien protestierten, führten schließlich zu einem historischen Prozess. Zum Abschluss des Verfahrens, das größtenteils in Freisprüchen endete, stellte der Vorsitzende Richter fest, dass es »Rassenhass auf beiden Seiten« gäbe – die erste öffentliche Anerkennung einer staatlichen Institution, dass Rassismus in der Polizei verbreitet ist.
Wut und Kampfeslust sind die emotionalen Akzente, die »Mangrove« setzt. Im zweiten Teil der Reihe, die unbedingt in der vorgegebenen Reihenfolge angeschaut werden sollte, balanciert McQueen sie mit purer Euphorie aus: Angesetzt an einem einzigen Abend auf einer Reggae-Hausparty unter Schwarzen, fängt »Lovers Rock« exakt die Dramaturgie einer Nacht ein, von ersten zaghaften Schritten und Blicken auf dem Dancefloor bis hin zu wildem Getanze und Gefummel.
»Lovers Rock« ist der einzige rein fiktive Film der Reihe und ihr dramaturgisch losester. Wie hier Affekte und Stimmungen durch die Geschichte führen, ist dennoch typisch für »Small Axe«, denn McQueen und sein brillanter Kameramann Shabier Kirchner achten sehr genau darauf, dass sich die Lebenswelten ihrer Protagonisten auch sinnlich erschließen und nichts museal ausgestellt wirkt.
Was nicht heißt, dass es nichts zu lernen oder mit genauerem Blick zu entdecken gäbe. Der Titel stammt von einem Song von Bob Marley. »If you are the big tree/We are the small axe/Sharpened to cut you down/Ready to cut you down«. Und wie so vieles in der Reihe ließe sich der Titel von Teil drei »Red, White and Blue« nicht ohne ein bestimmtes Buch verstehen: »There Ain't No Black in the Union Jack« (In etwa: In der britischen Flagge kommt kein Schwarz vor) von Paul Gilroy. 1987 veröffentlicht, zeigt der Kulturwissenschaftler, wie grundlegend Rassismus die jüngere britische Geschichte geprägt hat. »Red, White and Blue« begleitet den schwarzen Polizisten Leroy Logan (John Boyega) dabei, wie er den Rassismus der Polizei von innen heraus zu bekämpfen versucht.
Der »Guardian« hat Gilroy, der eng mit McQueen befreundet ist, aus Anlass von »Small Axe« porträtiert, die »New York Times« hat der Geschichte des Musikgenres Lovers Rock, das dem zweiten Film seinen Titel und Soundtrack gibt, nachgespürt. Solche Impulse, nach einzelnen Personen zu forschen, sich in unbekannte Musik einzuhören, Bücher zu entdecken, senden die Filme konstant aus. Man sollte ihnen unbedingt folgen – und zum Beispiel zu den Büchern von Alex Wheatle greifen.

Autor Alex Wheatle
Foto: Simone Padovani / Awakening / Getty ImagesWheatle ist ein erfolgreicher britischer Jugendbuchautor, geehrt sogar von der Queen. Er sollte dem Writer's Room von »Small Axe« von seinen Erlebnissen bei den Brixton Riots erzählen, den Unruhen gegen Polizeigewalt, die 1981 London erschütterten und in deren Folge Wheatle ins Gefängnis kam. Was er von seiner Kindheit und Jugend als schwarzer Waise im britischen Pflegesystem berichtete, stellt sich jedoch als so bewegend heraus, dass daraus der vierte Teil von »Small Axe« wurde: »Alex Wheatle«.
Die kurze Episode erzählt wie zuvor »Red, White and Blue« nicht vom beruflichen Durchbruch seines Protagonisten, sondern von den prägenden Jahren davor. In exakter Umkehrung der Geschichte des Polizisten Logan muss sich Wheatle dabei nicht in eine von Weißen geprägte Umgebung einfinden. In der englischen Provinz aufgewachsen und von seinen weißen Erziehern misshandelt und beschämt, hat er wenig Bezug zu schwarzer Kultur.
Wie spricht man als Schwarzer?
Bei seiner ersten Fahrt durchs traditionell karibisch geprägte Brixton, wohin ihn die Behörden verpflanzen, kann Wheatle deshalb nur staunen. Und dann muss er lernen. Wie man als Schwarzer spricht, sich kleidet, welche Musik man hört und welche Drogen man nimmt. Allen Zuschreibungen von außen zum Trotz ist nämlich auch Schwarzsein etwas, dass sich nicht »natürlich« ergibt.
Zum Schluss kehrt »Small Axe« zu den Anfängen zurück, zu den Kindern und zu McQueens eigener Biografie. »Education« greift den Skandal um die Sonderschulen auf, die in den Siebzigerjahren in London aufgezogen wurden, um gezielt Kinder westindischer Migranten zu separieren – da sie »lernbehindert« seien.
McQueen hat aufgrund einer Leseschwäche selbst, wie er sagt, die Schattenseiten des britischen Schulsystems kennengelernt. Ohne diese Erfahrung wären die komplexen Kinderfiguren aus »Education« kaum denkbar. Als die Kinder zum ersten Mal einer schwarzen Frau in ihrer Sonderschule begegnen, reagieren sie irritiert. »Sind Sie schwarz?«, fragt ein Mädchen ungläubig. Die Frau kommt von einer Initiative, die gegen die Segregation kämpft. »Natürlich bin ich das«, antwortet sie, und es klingt aus dem Schulzimmer hinaus in die Welt: »Ich bin schwarz, und ich liebe es, schwarz zu sein.«