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"Stadtgeschichten": Gar nicht nostalgisch

Foto: Nino Munoz/Netflix

Queere Geschichten bei Netflix  Die Serie der Stunde

Armistead Maupin klärte in den Siebzigern über queeres Leben in San Francisco auf. Jetzt kehren seine "Stadtgeschichten" auf den Bildschirm zurück - und sind aktueller denn je.
Von Thomas Abeltshauser

Es waren übersichtlichere Zeiten, als eine unbedarfte 25-jährige Mary Ann Singleton 1976 dem Mief der amerikanischen Provinz nach San Francisco entfloh. Im großen Haus der exzentrischen Anna Madrigal auf dem Russian Hill fand sie nicht nur ein neues Zuhause, sondern auch ihre Wahlfamilie. Mary Ann war die unwahrscheinliche Heldin der "Stadtgeschichten".

Mit denen beschrieb der US-Schriftsteller Armistead Maupin zunächst in einer wöchentlichen Kolumne des San Francisco Chronicle, später in Buchform, die alternative und vor allem schwule Subkultur der Stadt ebenso unterhaltsam wie für damalige Verhältnisse tabulos. 2014 erschien der letzte der neun Fortsetzungsromane. Der erste Band wurde 1993 als Miniserie verfilmt, die lange vor "Will & Grace" und "Queer As Folk" schwules Leben im Mainstream zeigte.

Nach zwei weiteren Staffeln startet nun mit zehn Folgen eine Neuauflage dieser Serie auf Netflix. Sie basiert nicht auf einem der Romane, sondern spielt im heutigen San Francisco. Mary Ann kehrt nach vielen Jahre wegen Anna Madrigals 90. Geburtstag zurück. Die Stadt hat sich stark verändert. Im großzügigen Haus der transsexuellen, Cannabis-züchtenden Vermieterin in der Barbary Lane 28 wohnt längst eine neue Generation, dessen Spektrum sexueller Identitäten und Gender weit auseinanderdividiert ist - und damit auch für Reibungen sorgt.

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"Stadtgeschichten": Gar nicht nostalgisch

Foto: Nino Munoz/Netflix

Da ist Mary Anns lesbische Adoptivtochter Shawna (Ellen Page, der heimliche Star dieses Revivals), die noch immer mit dem Verschwinden Mary Anns vor 23 Jahren hadert. Die Beziehung zwischen der lesbischen Margot (May Hong) und Jake (Darsteller Garcia identifiziert sich als nonbinär) wird durch dessen körperliche Veränderung zum Transmann auf die Probe gestellt. Es gibt genderfluide Personen, People of Color. Ein leicht durchgeknalltes Zwillingspaar erfindet sich für ihre Selbstinszenierungen auf Instagram gleich permanent neu.

Die wiederbelebten "Stadtgeschichten" sind reflektiert und gegenwärtig, liefern Gesellschaftsdiskurs als Popkultur und Seifenoper. Wie früher, als es um schwules Coming Out, Aids-Krise und auch um Geschlechtsidentität ging, doch diesmal anders, diverser.

Längst eine Ikone

Hinter der Kamera sorgten Showrunnerin Lauren Morelli ("Orange Is The New Black") und Armistead Maupin als ausführender Produzent mit Autoren wie Michael Cunningham ("The Hours") und einer Reihe Trans-Regisseur*innen für Sensibilität in Sachen LGBTQI*. Transsexuelle Charaktere werden auch von Transpersonen gespielt, abgesehen von der 87-jährigen Hauptdarstellerin Olympia Dukakis als Anna Madrigal. Sie wollte man nach 25 Jahren nicht plötzlich ersetzen, schließlich wurde sie mit dieser Rolle längst zu einer Ikone.

Armistead Maupins Romanreihe erschien 1993 schließlich auch in deutscher Übersetzung. Die turbulenten Abenteuer prägten bei Generationen von Lesern das Bild San Franciscos einer offenen, liberalen und ziemlich schwulen Stadt. So mancher Fan, der an die Pazifikküste reiste, musste dann enttäuscht feststellen, dass die Barbary Lane 28 und somit das Haus eine Erfindung Maupins waren. Für das Serienrevival wurde das aus den Vorgängerstaffeln ikonische Gebäude im Studio nachgebaut und wirkt mit seinen Außentreppen, der Veranda und dem verwunschenen Garten tatsächlich etwas aus der Zeit gefallen.

Denn nicht nur die Bewohner haben sich verändert, auch die Stadt selbst. Von der liberalen Hippie- und Schwulenmetropole wurde sie zum sündteuren Wohnort der IT-Branche des Silicon Valley. Das Leben ist dort für Lebenskünstler und andere Außenseiter nahezu unerschwinglich geworden. Die Serie thematisiert diese Entwicklung auch.

Die "Stadtgeschichten" reiten also keineswegs auf der Retrowelle. Kein wehmütiger Blick zurück, von Nostalgie nur homöopathische Spuren. Es ist, im Gegenteil, die Serie der Stunde. Nicht nur kommt sie genau im Pride-Monat, in dem die LGBTQI*-Community weltweit auf die Straße geht und den 50. Jahrestag der Stonewall-Aufstände feiert, als tagelang Hunderte Schwule und Dragqueens gegen eine Polizeirazzia rebellierten. Just am Vortag der weltweiten Serienpremiere entschuldigte sich New Yorks Polizeichef für den Einsatz damals.

Vor allem aber sind die neuen "Stadtgeschichten" eine Auseinandersetzung mit der derzeit auch hierzulande aufgeheizten Debatte, die im Grunde ein Generationenkonflikt der LGBTQI*-Gemeinde ist: Zwischen den Gründern der Homobewegung der Sechziger- und Siebzigerjahre, die für Bürgerrechte und gegen Stigmatisierung gekämpft und die AIDS-Krise überlebt haben und jenen genderfluiden Queeries der Jahrtausendwende, die sich nicht mehr in Schubladen stecken lassen wollen. So sind die "Stadtgeschichten" am Ende ein Plädoyer für Inklusion und Verständigung über generationale Grenzen hinweg. Und haben damit durchaus das Potential, erneut bahnbrechend zu sein.

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