
Thriller zum 9. November: Therapie und Folter
Stasi-Thriller im Ersten Wir spritzen Sie auf Linie!
Verspannungen? Der Neurologe Professor Doktor Wolfgang Limberg (Ulrich Noethen) schaut sich aufmerksam Hals und Rücken der Musiklehrerin Carola Weber (Anja Kling) an, die zu ihren bohrenden Kopfschmerzen geführt haben könnten. Am Ende der Sprechstunde - da fühlt man sich doch gut umsorgt! - verordnet er ihr ein Medikament.
Das hat der Mediziner, wenn sich Carola Weber richtig erinnert, schon einmal gemacht - vor gut zwei Jahrzehnten in Hoheneck, dem berüchtigten Frauengefängnis der DDR. Dort war die damals aufstrebende Pianistin 1988 in Haft gesteckt worden, nachdem sie einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Und wenn sie ihre Erinnerung nicht trügt, war es genau jener Limberg, der sie damals mit Psychopharmaka vollgepumpt hat, um ihren Willen zu brechen.
Beweise hat das Stasi-Opfer nicht dafür, dass es sich bei dem renommierten Nervenarzt um ihren einstigen Peiniger handelt. Carola Weber ist sich zwar sicher, dass diese Stimme nur dem Stasi-Verbrecher gehören kann - aber wer glaubt schon einer Frau, die aufgrund ihrer Gefängnishaft und der in dieser Zeit verübten Folter in therapeutischer Behandlung war, dass sie einen Täter allein über ihr Gehör überführen kann. Schließlich hatte sie sich Anfang der neunziger Jahre auch deshalb in die Psychiatrie begeben, weil sie aufgrund der vielen Substanzen, die man ihr in Hoheneck gespritzt hatte, Stimmen hörte.
DDR-Unrecht, perfide ins Jetzt gedreht
Der Professor Doktor, der bald öffentlich von der Musiklehrerin angeklagt wird, zeigt sich erst mal nachsichtig. Er beteuert, nicht der Peiniger zu sein, versucht sich in die schwierige Krankengeschichte seiner Anklägerin einzufühlen - und empfiehlt ihr und ihrem Mann (Tobias Oertel), dass sich die Frau doch noch mal in Therapie begeben möge, auf dass sie das Trauma endgültig aufarbeite.
Falls der Neurologe der Gesuchte sein sollte, wäre dieser Rat natürlich besonders heimtückisch: Ein weiteres Mal würde der Gegner zum Patienten gemacht - und das DDR-Unrecht perfide weitergedreht. Spritzte man früher aufmüpfige Charaktere auf Linie, so therapiert man jetzt unbequeme Opfer mundtot. Das ist die ungeheuerliche Ahnung, die in der ARD-Produktion "Es ist nicht vorbei" mitschwingt. Das DDR-Unrechts-Szenario - hier wird es gekonnt als klassischer Psychothriller erzählt, in dem die weibliche Hauptperson in männlichen Machtspielen aufgerieben zu werden droht. Ein starker Beitrag zum Jahrestag des Mauerfalls am 9. November.
Konsequent und mit teils hitchcockscher Perfidie treibt Regisseurin Franziska Meletzky ("Nachbarinnen") ihre Heldin durch einen Parcours der psychischen Demütigungen und sozialen Demontagen: Nervenarzt Limberg stellt sie mitfühlend als Psychowrack dar, bald beginnt auch der eigene Ehemann an ihr zu zweifeln - und scheint sogar gemeinsame Sache mit ihrem Gegner zu machen. Die schon fest geplante Adoption eines Kindes muss abgeblasen werden, das Leben des DDR-Opfers droht ein zweites Mal zu zerbrechen.
Das Stasi-Drama als geschliffenes Genre-Movie - diese Rechnung geht in "Es ist nicht vorbei" auf. Die Drehbuchautorin Kristin Derfler und Clemens Murath schaffen es, die zentralen historischen Informationen über Hoheneck zu vermitteln, ohne dem Thriller seine Wucht zu nehmen. Das Psycho-Szenario der Gegenwart wird genau verzahnt mit dem Gewalt-Szenario der hier überhaupt nicht fern erscheinenden DDR-Vergangenheit: Rund 8000 Frauen ließ man bis 1989 in Hoheneck gefangen halten, Zwangsmedikamentierung und Isolationsfolter waren an der Tagesordnung. In der anschließenden Dokumentation "Die Frauen von Hoheneck" wird anhand einiger Beispiele gezeigt, wie die Qualen der Vergangenheit ins Heute nachwirken.
Grandios, wie der ARD-Thriller mit seinen beiden unaufgeregt, aber effizient spielenden Hauptdarstellern Kling und Noethen die Kontinuität der Bedrohung als schlüssiges Angstszenario vermittelt. Der brutale Paternalismus des "realen Sozialismus" wirkt im fiktionalen Schocker - fast gänzlich ohne umständliche Rückblenden - tief nach: Väterchen Staat und Väterchen Arzt, sie meinen es doch nur gut mit dir, wenn sie die Spritze setzen.
"Es ist nicht vorbei", Mittwoch 20.15 Uhr, ARD
"Die Frauen von Hoheneck" (Doku), Mittwoch 21.45 Uhr, ARD