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Wills Mittwochspremiere: Anne und die Wut im Bauch

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Talkdebüt am Mittwoch Anne Will will's lieber still

Chaos-Gequatsche ab der ersten Sendeminute? Nicht in Anne Wills Mittwochstalk in der ARD! Das neue Konzept bringt mehr Konzentration - mit unerwarteten Auswirkungen: Ausgerechnet Veronica Ferres überraschte mit richtigen Einsichten, und selbst Edmund Stoiber gab sich nachdenklich.

Ja, ist denn schon wieder Sonntag? Man kommt ganz durcheinander. Gerade eben, vor den "Tagesthemen", das war doch kein "Tatort", und trotzdem sitzt da jetzt Anne Will - die Königin des Sonntags, Herrscherin über das Kaffeeküchengespräch am Montagmorgen im Büro, an einem schnöden Mittwoch? Tja, es hat sich ausgeherrscht.

Es ist gewöhnungsbedürftig, es wird einige Zeit dauern, bis sich das normal anfühlt. Auch wenn es wohl schneller gehen wird, als sich an Günther Jauch in der Rolle eines seriösen Journalisten zu gewöhnen, wenn er ab 11. September mit seiner politischen Talkrunde den Sonntag bespielen wird, weshalb - wir rekapitulieren mal kurz - das "Morgenmagazin" künftig abends ausgestrahlt werden muss, aber nur dienstags, während die "Tagesschau" an jedem zweiten Donnerstag ausfällt, weil man sich ihre Herstellung wegen Jauchs heftiger Honorarforderungen nicht mehr so oft leisten kann.

Aus demselben Grund wird freitags künftig ganztägig die Wettervorhersage ausgestrahlt, die ist jetzt billiger geworden ohne Kachelmann, und die Zuschauer interessiert am Freitag sowieso nichts anderes als das Wetter. Den Rest der Woche über moderiert Thomas Gottschalk für eine Monatsgage von einer Fantastillion (etwa ein Drittel des Jauch-Salärs) dann live aus seinem Hobbykeller in Malibu - darum wird die ARD-Programmreform ja auch "Talk-Marathon" genannt.

Wie dem auch sei, auf dem Rangierbahnhof ARD ist jedenfalls einiges unter die Räder gekommen. Größtes Opfer der Reform (neben dem verwirrten Zuschauer), hieß es im Vorfeld, sei Anne Will. Was für eine Verdrängung musste sich die Moderatorin gefallen lassen, welch eine Degradierung erleidet sie, welch tiefen Fall! Kein relevanter Politiker wird sich jemals wieder bei ihr blicken lassen, die gehen jetzt alle am Sonntag zu Jauch, die nicht so relevanten am Montag zu Frank Plasberg, die Menschen mit einem Schicksal treffen am Dienstag auf Sandra Maischberger. Und wer bleibt für Will übrig? Die Restposten, zusammengeklaubt aus dem hintersten Datensatz der gemeinsamen ARD-Talkgäste-Datenbank. Ist es denn überhaupt möglich, an einem Mittwoch zu senden?

Das Konzept offenbart schnell Vor- und Nachteile

Anne Will hat bewiesen: Es geht. Es ist auch an einem Mittwoch möglich, sehr unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene (brennende Autos, U-Bahn-Schläger und Plünderungen in London) zu einem Großthema zu verrühren ("Wut im Bauch"). Will und ihre Redaktion haben die Verschiebung genutzt, das Konzept der jetzt 75 Minuten langen Sendung zu verändern. Zwar ist die schreckliche Titelmelodie geblieben, aber dafür sitzen die Gäste nicht mehr alle von Anfang an zusammen, sondern werden nacheinander zur Moderatorin gebeten, man darf sich das so ähnlich vorstellen wie bei "Wetten, dass..?", mit dem Unterschied, dass bei Will niemand früher aufbrechen darf, um noch einen Flieger nach Hollywood zu erreichen.

Ist allerdings auch niemand aus Hollywood da, sondern zunächst nur Tim Raue, der Koch aus Kreuzberg mit hinlänglich bekannter schwerer Jugend und Straßenvergangenheit. Die anderen Gäste, der Rapper Sido, die Schauspielerin Veronica Ferres, der Ex-CSU-Chef Edmund Stoiber und der Journalist Christian Nürnberger, warten in der ersten Reihe des Studiopublikums auf ihren Einsatz. Sie bekommen mit, was besprochen wird, können aber noch nicht eingreifen.

Das neue Konzept offenbart schnell seine Vor- und Nachteile. Einerseits wird jetzt nicht mehr von der ersten Minute an wild durcheinander geredet und gestritten, was durchaus angenehm auffällt, weil Will sich die Zeit nehmen kann, ausführlich mit dem einzelnen Gast ins Gespräch zu kommen, der dann aber andererseits mehr oder weniger unwidersprochen (auch von Will 2.0 sollte man da nicht zu viel erwarten) seine Sicht der Dinge ausbreiten kann, während beispielsweise im Hintergrund Edmund Stoiber die Backenzähne kreisen lässt und das eine oder andere einzuwerfen hätte, was man vielleicht gerne gehört hätte. Also nur beispielsweise.

Da ist es wieder: das Sonntagsgefühl

So erfahren die Zuschauer eine Menge über die Kreuzberger Jugend des mittlerweile gefeierten Kochs, dass die harte Hand seines Vaters ihm auch Antrieb für ein besseres Leben war, dass er die Plünderungen in London für "Schwachsinn" hält und großen Respekt hatte vor Einheiten der bayerischen Bereitschaftspolizei, wenn sie am 1. Mai in Berlin eingesetzt wurden, zwischendurch dürfen Raues ehemalige Gang-Kumpel im Einspielfilm den öden Häuserblock zeigen, wo der Tim damals eine Mutprobe zu bestehen hatte. Nach und nach stoßen die anderen dazu, zunächst Sido, dessen mittlerweile ja doch schon recht angejahrter "Arschficksong" immer noch rechtfertigt, ihn als Experten für die Verrohung der Jugend einzuladen. Edmund Stoiber sitzt da immer noch im Publikum und beißt sich in Großaufnahme auf die Oberlippe.

"Wer Gewalt ausübt, hat in unserer Gesellschaft nichts verloren", sagt Chefkoch Raue, das ist ein Ansatz, den man in seiner Kurzsichtigkeit (schließlich ist die Gewalt ja leider offenbar Teil unserer Gesellschaft) doch hätte diskutieren können, aber auch Christian Nürnberger sitzt noch im Dunklen, und Sido, naja. Dafür jetzt Veronica Ferres, die spielt nächste Woche in der ARD eine Rolle in einem Fernsehfilm über Jugendgewalt, außerdem ist sie (wenn auch wohl keine typische) alleinerziehende Mutter, jedenfalls darf sie auch irgendwie als Expertin gelten. Außerdem war sie ja während der "Riots" in London und lag voller Angst eine Nacht lang in ihrem Hotel, das offenbar kurz vor der Erstürmung durch die marodierenden Horden stand.

Überraschenderweise ist es dann aber doch Ferres, die etwas Differenzierung in die Debatte bringt: Nein, man könne die Jugendprobleme nicht auf Killervideos und Porno-Rap reduzieren, das greife zu kurz, gebraucht würden Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Erstaunlich auch die Einlassungen Edmund Stoibers: London könne man sich als normaler Mensch ja gar nicht mehr leisten, und das Problem sei ja auch die Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa, England jedoch mit Deutschland kaum vergleichbar. Der Journalist Nürnberger wundert sich über Stoibers Einsichten, die ihm leider erst nach seiner aktiven Zeit als Politiker gekommen zu sein scheinen.

Die letzte gute halbe Stunde diskutiert die komplette Runde dann über die Verantwortung des Staats gegenüber dem Einzelnen, wobei Stoiber wieder in den Schützengraben zurückkehrt und die Rufe nach dem Staat, der die Erziehung übernehmen soll, als eine "alte linke Diskussion" verwirft, die gescheitert sei. Nein, auch die Eltern haben Verantwortung! Aber wie sollen sie die wahrnehmen, wenn sie drei Jobs haben müssen, um die Familie zu ernähren, wirft Nürnberger ein? Applaus hier, Applaus da, die Sendung ist jetzt wieder ganz bei sich, aber auch schon verdammt lang. Eine gewisse Ermüdung stellt sich ein, und ja, da ist es doch wieder: das Sonntagsgefühl. Was Will man mehr.

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